Der Bock als Schatzhüter
Ein Hirte trieb eines Tages wie gewöhnlich seine Herde auf den Burghügel Castellveder. Als er abends wieder heimkehrte, bemerkte er, daß ein Ziegenbock fehle. Er gieng zurück, um ihn zu suchen. Als er zur Ruine kam, sah er dort eine Steintreppe, die in ein unterirdisches Gewölbe führte. Furchtlos stieg er hinab. In demselben fand er zum größten Erstaunen mehrere Kisten , auf denen der Bock hin und her sprang. Der Hirt bemühte sich lange Zeit, den Bock heraufzubringen; da er aber nichts ausrichtete, begab er sich zur Eigenthümerin des Thieres, die ein sehr armes Weib war, und drang in sie, mit ihm zu gehen. Das Weib gieng auch und nahm ein kleines Kind auf dem Arme mit sich. Wie sie nun zur Ruine kamen, fanden sie wieder die Steintreppe und stiegen in das Gewölbe hinab. Zu ihrem noch größeren Erstaunen aber sahen sie die Kisten mit Gold angefüllt. Von Goldgier erfaßt, setzte die Frau ihr Kind auf die unterste Treppenstufe und füllte sich die Schürze mit Goldstücken. Wie sie droben die Schürze ausleerte, sah sie, daß die vermeintlichen Goldstücke nur Kohlen waren. Sie wollte nun eilig wieder die Treppe hinab, um das Kind zu holen; aber zu ihrem Schrecken fand sie von Kind und Treppe keine Spur mehr. Jammernd eilte sie zum Pfarrer und erzählte ihm den traurigen Vorfall. Dieser aber erkannte die Strafe für ihre Goldgier und sagte ihr, sie solle sich den Tag und die Stunde merken und genau über ein Jahr in der nämlichen Stunde zur Ruine gehen; dann werde sie das Kind wieder finden. Die Frau that so und fand auch wirklich ihr Kind wieder, und zwar ganz gesund und wohlbehalten und auf der nämlichen Stufe sitzend, auf die sie es hingesetzt hatte.
Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 515