Das erlöste Männlein
Vor mehreren Jahren giengen mehrere Kinder an das Etschufer, um dort zu spielen, wie dies oft geschieht. Da kam ein altes, gebücktes Männlein und sprach sie an: "Kinder." Der Ton seiner Rede war so hohl und fürchterlich, daß alle Kinder sammt und sonders davon liefen. Als die Kleinen am folgenden Tage wieder an derselben Stelle schäckerten und spielten, kam dasselbe Männchen und die Kinder stoben auseinander, als ob der Wind in die Spreu gefahren wäre. So gieng es einige Tage hintereinander, bis ein braves Kind die Geschichte dem Katecheten erzählte. Da sprach dieser: "Wenn das Männchen noch einmal kommt, so fasse Dir ein Herz und frage den Alten um sein Begehren." Das Mädchen befolgte die Worte des Priesters und fragte am folgenden Tage das Männchen, was es wolle? Da antwortete es: "Ich büße schwer meine Fehler, doch in eure Hand ist meine Erlösung gelegt. Wenn alle Schulkinder nach Weißenstein kirchfahrten giengen, wär' ich selig." Mit diesen Worten verschwand das Männlein. Das Mädchen eilte alsbald zum Katecheten und erzählte ihm das Gehörte. Da ward eine Wallfahrt aller Schulkinder auf den folgenden Tag angeordnet und vollführt. Seitdem ward das Männchen nie mehr gesehen; aber auch das Kind, das ihn angesprochen hatte, war binnen acht Tage gestorben. (Neumarkt.)
Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 456, S. 257