DIE STADT NISSELBURG

In der Gegend von Bozen und Meran stößt man fast alle Stunden auf eine verschüttete oder versunkene Ortschaft. Es möge in dieser Hinsicht auf Mais-Meran, auf Partschins, Lana, Lafenn ober Jenesien, Rentsch bei Bozen und auf die Stadt Susa oder Droz verwiesen werden, welch letztere einst an Stelle des heutigen Schlerndorfes Seis gestanden haben soll. Eine Volkssage dieser Art hat sich nun auch von der Stadt Nisselburg erhalten, die vor Zeiten unterhalb Bozens stand, wo jetzt das Dorf Leifers sich ausbreitet.

Damals hing der von einer Ritterburg gekrönte Felsen, auf dem jetzt das Peterköfele-Kirchel steht, noch fest mit dem gegenüberliegenden Breitenberg zusammen, und dahinter lag ein See, der Brantensee, klar und hell wie Kristall, an dessen Ufern freundliche Bergmännlein hausten, die den Bewohnern der nachbarlichen Gegend viel Gutes erwiesen.

Da es aber den Nisselburgern dadurch eben viel zu gut erging, begannen sie in ihrem übermut die Bergmännlein vom Brantensee auf alle Weise zu necken und trieben den Frevel endlich so weit, daß sie einem der Männchen die Ohren abschnitten und dabei drohten, es allen übrigen ebenso und noch ärger zu machen. Da erschien eines Tages ein eisgrauer Wandersmann, um die übermütigen Nisselburger vor weiterem Frevel zu warnen. Der Pilger, den niemand kannte, leitete seine Mahnung mit folgenden Worten ein:

"Ich bin so alt,
weiß den Schmalbergwald
neunmal Wies' und neunmal Wald,
den Schlern wie ein Nußkern,
is Joch Grimm
wie a Messerkling',
aufm Rittner Horn
's beste Korn
und auf Weißenstein
Traminer Wein."

Doch die Leute von Nisselburg lachten über den einfältigen Graubart, höhnten und schlugen ihn sogar und drohten, ihn und die Bergmannlen, die sich noch blicken ließen, in der Etsch zu ertränken. Da ging der Alte jammernd davon, stieg den Berg hinan und rief zuletzt noch oben vom Peterköfele herab ins Tal:

"Nisselburg muß untergeh'n,
kein Haus darf hier mehr aufrecht steh'n,
und arm und reich hinab,
hinab ins nasse Grab!"

So ist es auch gleich darauf wirklich gekommen. Die Bergmannlen gruben eilig den Felsen durch, der wie ein Wall zwischen dem See und den Häusern von Nisselburg unten sich ausdehnte, und als die Wand durchbrochen war, da rauschten die Fluten nieder auf die Stadt und begruben dieselbe mit all ihren Mauern und Türmen, mit Häusern und Hütten unter einem Hügel von Schutt und Schlamm. Wo vormals der See gewesen ist, zieht sich nunmehr, tief in den Berg eingerissen, das Brantental gegen das Joch Grimm hinan, und die Bergmännlein sind seit dem Untergang von Nisselburg im Erdinnern verschwunden. Auch die Burg Liechtenstein ober der verschütteten Stadt war zusammengebrochen, nur ein rundes Loch im Boden zeigt beiläufig die Stätte an, wo sie gestanden ist. Dieses Loch, das ringsum ausgemauert ist und nach Aussage der ältesten Leute früher viel tiefer in den Felsen hinabging, ist unweit des PeterköfeleKirchls und soll den Eingang gebildet haben zu einem unterirdischen Gang, der unter den Mauern und Türmen der Burg zur Stadt Nisselburg hinabgeführt habe.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 499