DIE SALIGEN IN RADEIN

In der Nähe des Dorfes Radein ist das sogenannte Hexen- oder Frauenloch, eine enge, finstere Höhle. Da sahen die Leute früher öfters kleine und gar seltsame Fräulein aus- und einschlüpfen, meist an Freitagen nach dem Betläuten. Es waren Salige Leute, die abgesondert von den Menschen lebten.

Die Bauern wurden neugierig, und drei beherzte Burschen wagten sich an einem Freitag abends nach dem Betläuten in das Loch. Sie krochen eine Strecke weit hinein, aber das Loch wurde immer enger, so daß zwei schon wieder umkehren wollten; aber der dritte drang mutig vorwärts und bewog die andern, ihm zu folgen. Alsbald erweiterte sich der Gang, und sie gelangten in einen geräumigen Saal, in welchem weder Tische noch Bänke waren. An den Wänden aber bemerkten sie da und dort einen aus dem Felsen hervorstehenden Goldklumpen. Einer der drei Burschen schlug den Klumpen, der ihm zunächst in der Wand sichtbar war, aus dem Felsen heraus und bemerkte dabei eine kleine Tür, die sie früher nicht beobachtet hatten.

Er öffnete sie und sah dahinter lauter Schätze schimmernden Goldes. Aber in dem Augenblick schwärmten von allen Seiten die kleinen Fräulein herbei; man sah nicht, woher sie kamen, auf einmal waren sie im Saale. Sie fragten die Burschen, was sie da suchten. Der Beherzteste unter diesen sagte, sie wären gekommen, um zu sehen, was in dem Loch sei. Sie wollten weiter nichts und würden sofort wieder umkehren, die Fräulein möchten ihnen ihre Neugierde verzeihen.

Allein die Saligen drohten, sie für diesen Frevel zu bestrafen. Nun baten die Burschen inständig, sie zu verschonen und versprachen hoch und teuer, nie mehr da hereinzukommen und niemandem etwas davon zu verraten, was sie da gesehen hätten. Endlich gaben die Fräulein nach und ließen die Burschen frei hinausgehen. Diese jedoch hielten ihr Versprechen nicht, sondern erzählten im Dorf von den Schätzen, die sie gesehen hatten.

Am nächsten Freitag zogen nun beinahe sämtliche Bauern von Radein wohl bewaffnet vor das Loch und drangen durch den Felsengang in den unterirdischen Saal ein. Die Fräulein stoben entsetzt davon, sprachen aber ihren Zauber, und das Gold wurde zu eitel Stein geblendet, so daß die Bauern ohne den Schatz wieder heimkehren mußten. Seitdem sind die Saligen, die den Leuten nur Gutes getan hatten, aus der Gegend von Radein verschwunden.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 521