Die Bettlerin und der Müller
In Katharinaberg besaß ein Bauer eine gute Hausmühle. Weil er das ganze Jahr Mühlwasser hatte, wurde er von den Bauern gebeten, ihr Getreide zu mahlen. Das tat er auch. Nach Recht und Gerechtigkeit aber durfte er vom Mahlgut nichts wegnehmen. Aber mahlte er sein eigenes Korn, konnte er ohne weiteres eine Handvoll Mehl verschenken.
Wieder hatte er einen großen Sack voll Korn in die Gosse geschüttet und das Wasser auf das Mühlrad gekehrt. Feines, schneeweißes Mehl rann in den Holzbottich herab. "Ja, ja", sagte der Bauer so vor sich hin, "vom Leitenacker gibt es immer das beste Mehl ab. Es ist kein Unkrautsame dabei. Da werden meine Kinder gewiß rote und dicke Wangen bekommen!" Inzwischen kam ein Bettelweib vorbei und schaute in die Mühle hinein. Vor diesem Weibe hatte jeder Angst. Fiel die Gabe nicht nach Wunsch aus oder bekam sie nicht gerade freundliche Worte zu hören, so verwünschte sie gleich den betreffenden Menschen. Nach ihrer Weise bettelte sie den Müller an und sagte: "Müller, schenk mir auch eine Schaufel voll Mehl; ich habe nichts mehr daheim zu kochen, du hast Mehl genug; leben muß ich auch. Da hätte ich gerade einen leeren Sack bei mir."
Diesmal hätte der Müller leicht eine Schaufel voll verschenken können; denn er mahlte ja nur sein eigenes Korn. Aber von diesem besten Mehl wollte er kein Stäubchen weggeben. Darum antwortete er: "Eine Schaufel voll mehr oder weniger macht mir nichts aus. Aber heute mahle ich das Korn von einem anderen Bauern. Wenn ich wieder von meinem eigenen Korn mahle, dann schenke ich dir gerne zwei Schaufeln voU. Habe es nicht für ungut!" — "Müller, das Korn gehört diesmal schon dir selber. Du willst mir nur keines schenken, du Geizkragen! Dafür verwünsche ich dir alle deine Kinder! Deine Kinder sollen der Reihe nach dahinsterben, eines soll dir bleiben, aber immer krank dahinleben." Der Müller schenkte diesen Worten keinen Glauben und arbeitete weiter. Eines kam ihm doch eigenartig vor, daß die Bettlerin genau wußte, daß das Korn ihm selber gehört. Daß er für seine Lüge so hart gestraft werde, kam ihm übertrieben vor. Zu seinem nicht geringen Schrecken ging der Fluch in Erfüllung. Ein Kind nach dem anderen starb ihm dahin. Zuletzt blieb ihm noch ein einziges Kind übrig mit blassen Wangen und trüben Augen. Kein Müslein vom besten Mehl des Leitackers vermochte dem armen Kinde Kraft und Gesundheit zu bringen.
Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 101.