Die böse Mutter
In einem Bauernhause lebte vor Zeiten eine böse Mutter mit einem Knaben und mit einem Mädchen. Den Knaben konnte sie nicht leiden, und sie sann nach, wie sie ihm ein Leid antun könnte.
Eines Tages schickte sie ihre beiden Kinder mit Ruckkörbchen in den Wald hinaus um Holz. Dabei sagte sie: "Wer zuerst heimkommt, darf sich droben aus der Truhe einen Apfel herausnehmen." Fröhlich zogen sie aus, und das Büblein kehrte zuerst mit der Bürde Holz nach Hause. "Komm", sagte die Mutter, "wir gehen hinauf und du bekommst einen Apfel." Sie öffnete den schweren Deckel der Truhe und das Büblein bückte sich nach einem Apfel nieder. In diesem Augenblick schlug die böse Mutter den Deckel zu und klemmte dem armen Buben den Kopf ab. Der Kopf fiel innen in die Truhe hinab, der tote Leib fiel außen auf dem Boden nieder. Die Mutter trug sogleich das tote Söhnlein in den Keller hinab und hing es hinter der Kellertür auf.
Später kehrte auch das Schwesterchen heim und wußte von allem nichts. Die Mutter schickte das Mägdlein in den Keller um Mehl. Es dürfe aber nicht hinter die Kellertüre schauen. Das Mädchen folgte, hatte aber doch große Neugierde und schaute hinter die Kellertüre. Zum größten Schrecken sah es ihr totes Brüderlein an zwei Nägeln hängen. Weinend kam das Mädchen in die Küche zurück, und die Mutter fragte gleich: "Warum weinst du, Kind?" — "Ach, ich habe etwas Mehl verschüttet und ich fürchtete deinen Schimpf!" — Ein anderes Mal schickte die Mutter wieder ihr Kind in den Keller um Schmalz. Aus Neugierde schaute das Schwesterchen nochmals zum toten Brüderlein hin und hatte großes Erbarmen. "Kind, sooft ich dich in den Keller schicke, kommst du weinend zurück. Bist du gefallen?" — "Nein, Mutter, ich habe etwas Schmalz verloren und deswegen fürchtete ich mich vor dir!" — Und ein drittes Mal schickte sie das Töchterlein in den Keller; es sollte Eier holen. Das Kind folgte immer geschwind und immer mußte es neugierig zu seinem armen Brüderlein hinter die Tür schauen. Mit Tränen in den Augen kehrte das Mädchen zurück. Die Mutter wurde zornig und schrie: "Sooft ich dich in den Keller schicke, kommst du weinend zurück! Was hast du nur?" — "Ach, Mutter, mir ist ein Ei zu Boden gefallen, und ich fürchtete mich vor der Strafe!"
Die Mutter kochte nun das Fleisch ihres toten Söhnleins und bereitete ein Essen für den Vater, der draußen beim "Stumpfrain" die Wiese wässerte. Das Mädchen brachte in einem Körbchen dem Vater das Mittagessen, und er ließ es sich gut schmecken. Hernach warf er die abgenagten Beinchen in das Gebüsch hinüber. Und alsbald wuchsen aus den Beinchen Waldbäumchen auf, es flogen Waldvögelchen in die Zweige hinauf und sangen das Liedchen: "Die Mutter hat mich abgeschlagen, die Schwester hat mich aufgetragen und der Vater hat mich abgenagen!" So wußten Vater und Schwesterchen, was mit dem armen Büblein geschehen war.
Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 96.