Die Drahner-Thres
Wer vor mehr als hundert Jahren nach Innerbrugg hineinkam, erblickte rechts oben mitten im Lawinenstrich ein armes Häuschen. Ein Drechsler wohnte darin mit seiner Tochter Theresia. Allgemein hieß man den Vater nicht Drechsler, sondern den Drahner und seine Tochter die Drahner-Thres. Auf dem Hausdache lagen Schindeln und darauf große Steine. Alles im Hause war von Holz: Die Kleidernägel, die Löffel, die Milchschüsseln, Becher und Stötzlen, Eßteller, Fleischbrettchen, Pfannenknecht, Gabeln und Spulen. Die Thresl war ein sauberes Mädchen, doch bald hatte sie ihren guten Ruf im Tale verloren. Um das Jahr 1860 wurde das Drahnerhüttl abgetragen. Bei der Drahner-Thresl erfüllte sich das Wort: Wer dem Teufel den kleinen Finger gibt, dem nimmt er bald die ganze Hand.
Zur Sommerszeit arbeitete sie mit den Nachbarsleuten droben im "Schmiedhannes- Raut". Nebenher erzählte sie unschöne Dinge. Da fuhr der Schmiedhannes dazwischen: "Jetzt hörst uns mit diesen sündhaften Reden auf! So können wir keinen Segen Gottes auf unserem Raut haben. Und deinetwegen wollen wir nicht auch in die Hölle kommen!" Ein Schwärm schwarzer Vögel kreischte hoch in den Lüften, stießen hernieder mit lautem Geschrei und umflatterten die Drahner-Thres. Mit ihren Schnäbeln hackten sie wild auf sie ein, nahmen sie in ihre Krallen und trugen sie in den Lüften davon. Sie flogen übers Tal hinüber gegen Pitair. Oberhalb des Kirchsteiges, droben beim "Garbenkofel", lassen sie die Thres ohnmächtig nieder. Jetzt beginnen die Vögel ihr grauses Werk. Sie reißen der Thres die Kleider weg, hacken Stücke Fleisch heraus und fressen sich satt. Auf Pitair ist man durch das Kreischen der schwarzen Vögel aufmerksam geworden. Die Leute bewaffnen sich mit Knütteln und kommen herbei. Die Vögel flattern auf und davon. Die Drahner-Thres finden sie in sterbendem Zustand. Die Leute schreien: "Die Drahner-Thres haben die Teufel vertragen, sie stirbt eines unseligen Todes. Wir bleiben nicht mehr da!"
Die Drahner-Thres wurde vom "Garbenkofel" weggeschafft und in Unser Frau begraben. Am "Garbenkofel" hat der Herrgott selber ein warnendes Denkmal hingesetzt. Auf der Steinplatte, wo die Drahner-Thres gelegen hatte, war auch ihre Leibesform eingedrückt. Sie war genau so zu sehen, wie wenn eine Frau sich in frischgefallenen Schnee hineinsetzt. Diese Steinplatte ist später durch ein Gefalle ins Tal hinabgerissen worden und liegt unter Schutt und Geröll begraben.
Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 109.