Der Dunderbaum
Am Wege zum Zerzertal, in dem sich die Burgeiser Almen ausbreiten, soll
ein mächtiger Baum mit weit ausladender Krone gestanden sein. Man
nannte ihn den Dunderbaum. In ihm stak eine geheimnisvolle Kraft, die
Kraft nämlich, alle Blitze fern zu halten und unwirksam zu machen.
Um aber dieser Kraft teilhaftig zu werden, mußte man beim Vorbeigehen
mit den Zähnen ein Zweiglein abbeißen und dasselbe als Talisman
mit sich tragen. Dadurch war man gegen Blitz und Unwetter geschützt.
Viele Burgeiser werden wohl den Ziegen gleich, von diesem Baum ein Zweiglein
abgebissen haben, wenn sie in ihre Almen gingen, um dort nach ihrem Vieh
zu sehen. Schließlich wurde aber der alte Baum morsch und fiel um.
Ebenso würde man durch den Besitz dieses Zweiges beim Gehen keine
Müdigkeit oder im steilen Gelände kein Schwindelgefühl
verspüren. Ein Stück weitergehend, erreicht man die "Platten".
Auf einer dieser Steinplatten war ein Kreuz eingehauen, das Zeichen des
Heiles. Ehrfurchtsvoll knieten die Almgänger nieder und küßten
dieses Zeichen der Erlösung, so ähnlich wie es jetzt am Karfreitag
von den Gläubigen in der Pfarrkirche geschieht. Dieser Kuß
des Kreuzes würde, darüber war man fest überzeugt, jeden
vor dem Bann unheimlicher Gewalten schützen, die so gern dort oben
ihr bösartiges Spiel mit den Vorbeiziehenden trieben.
Quelle: Winkler, Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau, Bozen 1968. S. 67f