DER AUSBRUCH DES GADRIASEES

Der Hügel zwischen Schlanders und Laas soll eine große Stadt bedecken, über deren Untergang folgendes erzählt wird: Das etwa eine halbe Stunde ober Kortsch befindliche St.-Georgs-Kirchlein soll vor uralten Zeiten ein berühmter Wallfahrtsort gewesen sein. Je mehr Leute aber auch von allen Seiten herbeikamen, um den Heiligen in dieser Kapelle zu verehren, um so weniger kümmerte sich die ausgelassene Einwohnerschaft der am Fuße des Berges liegenden Stadt um den ritterlichen Heiligen. Zur Warnung ließ St. Georg öfters Murbrüche aus dem Gadriatale kommen und die Felder und Wiesen der Städter verheeren. Das half aber alles nichts. Die Gewarnten blieben so gottlos wie zuvor und bauten höchstens dicke Mauern und Archen, um dem Wildbache Einhalt zu tun.

Panorama Vinschgau, Blick auf den trennenden Hügel
Panorama Vinschgau
Blick von Tarsch (Latsch) nach Schlanders
© Wolfgang Morscher, 10. Juli 2004

 

Im Gadriatal war zur selben Zeit noch ein See und nicht weit davon tat sich eine große Felsenhöhle auf. Weil die Städter sich gar nicht bekehren wollten, so sandte der Heilige seinen Drachen aus, der sofort in jener Höhle sein Lager aufschlug und von der aus er unter den Herden der Städter großen Schaden anrichtete. Aber auch das half nichts, denn das gottlose Volk dachte nicht daran, sich zu bekehren, sondern heckte nur einen Plan aus, um dem Drachen den Garaus zu machen: Sie nähten lebendigen Kalk in eine Kalbshaut, stiegen auf den Berg und ließen den verderblichen Fraß mit Stricken in die Seegegend hinab. Zur Nachtzeit kam der Drache wie gewöhnlich aus seiner Höhle, gewahrte das Kalb und schlang es gierig hinunter. Dann sprang er in den See und schwamm ein paarmal darin auf und nieder. Als aber das Wasser mit dem Kalk in Berührung kam und anfing, denselben zu löschen, da wurde der Drache von solchen Schmerzen gepackt, daß er ganz wütend im See herumfuhr und mit dem ungeheuren Schwanze nach allen Seiten ausschlug. Der Damm, welcher den See vom Haupttale trennte, wurde von einem solchen Schlage getroffen und durch und durch geschlagen. Augenblicklich drangen die Wasser aus ihrem Becken, stürzten unaufhaltsam in das Tal und furchtbare Massen Steingeröll rollten mit ihnen heraus. Am andern Morgen, als die Sonne aufging, war keine Spur mehr von der Stadt sichtbar, sondern ein ungeheurer Schutthügel hatte Stadt und Städter begraben.

Der Drache kam mit den Wassern hinab bis in die Gegend zwischen dem heutigen Terlan und Bozen, wo er in seinen letzten Todeszuckungen noch mit dem Schwanze sieben Eichbäume zersplitterte. Hievon soll auch die daselbst befindliche Ortschaft Siebeneich ihren Namen bekommen haben. (Untervintschgau.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 309, S. 188