NÄCHTLICHER GOTTESDIENST
1.

Ein alter Mann ging um Mitternacht über den Freithof (Friedhof) zu Mals. Da hörte er Orgelton und Gesang; auch sah er die Kirchtüre offen. Da ging er neugierig hinein und fand alle Stühle voller Beter, die altertümlich gekleidet waren, und niemanden kannte er. Der damalige Dekan hielt ein Hochamt. Endlich wurde ihm unheimlich, und er wollte die Kirche verlassen. Da sagte die dem Manne zunächst stehende Person, er müsse etwas zurücklassen. Er legte sein Sacktuch auf einen Betstuhl und ging. Als er am folgenden Morgen die Messe besuchte, fand er das Sacktuch zu kleinen Fetzen zerrissen. Hätte er nichts zurückgelassen, wäre ihm das Los des Sacktuches zuteil geworden. Wenige Tage darauf starb der Dekan, der das Geisteramt gehalten hatte. (Mals.)

2.

In Taufers kam eine Magd, die glaubte, es sei Zeit zur Frühmesse zu gehen, um Mitternacht in die Kirche. Sie fand die Kirche offen, die Orgel tönte, ein Priester stand am Altare, und die Kirche war gedrängt voll, doch alle Beter waren ganz unbekannte Leute, viele in alter Tracht. Wie die Messe zu Ende gehen sollte, zupfte jemand die Dirn, sie sah um und erblickte ihre kürzlich verstorbene Schwägerin. Diese mahnte die Lebende, sie solle eiligst weggehen, aber das Fürtuch zurücklassen. Sie folgte und lief heim. Am andern Tag lag auf jedem Grabe ein Lappen des von den Geistern zerrissenen Schurzes. (Taufers.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 483, S. 270