Der eingemauerte Kartäuser

Im Kartäuserkloster "Allerheiligen" in Mauerbach bei Wien lebte einst Bruder Hilarius. Er war eigensinnig und bat immer wieder um Versetzung nach der neu errichteten Kartause Allerengelberg im Schnalstale. Endlich gaben seine Vorgesetzten seinem Drängen nach. Die Kartause Allerengelberg stand damals noch in den ersten Anfängen und wurde eifrig ausgebaut und eingerichtet. Vor den Ringmauern lagerten sich zahlreiche Werkleute und Helfer mit ihren Frauen und Kindern, Händler, Musikanten, Gaukler und anderes fahrendes Volk. Bruder Hilarius wurde aber durch das Geschwätz, den Lärm und das Geschrei der Arbeiter viel gestört. Einmal vergaß er alle Geduld und Sanftmut, stürzte aus seiner Zelle heraus und schrie mit Donnerstimme: "Fluch sei den Bauleuten und dem Gesindel! Und Fluch dem ganzen Kloster!" Bald fühlte er tiefe Reue über seinen Jähzorn und bat in der Kirche um Verzeihung. Gott verzieh ihm, doch zur Strafe müsse er noch so lange im Fegfeuer verweilen, bis vom Kloster, das er verflucht habe, kein Stein mehr auf dem anderen stehe! Er werde bald sterben.

Karthaus - Ringmauer © Wolfgang Morscher
Zinnenbekrönte Ringmauer vom Kartäuserkloster Allerengelberg im Schnalstal
© Wolfgang Morscher, 2. September 2006

Am nächsten Tage, während es den "Engel des Herrn" läutete, hauchte er in seiner Zelle, am Boden liegend, seine Seele aus. Weil er ohne Sakramente gestorben war, begruben die Mitbrüder den Bruder Hilarius nicht in der geweihten Erde des Friedhofes, sondern mauerten ihn in seiner Sterbezelle ein, mauerten auch Fenster und Türen der Zelle zu.

Wieder einmal waren alle Brüder im Kapitelsaal versammelt. Bruder Hilarius erschien ihnen traurig, aus dem eingefallenen Munde züngelte eine rote Flamme heraus. In der linken Hand hielt er einen gebrochenen Pfeil, dessen Spitze nach seinen Lippen gerichtet war. Er begrüßte die Gemeinde und sprach mit leiser Stimme, er müsse noch so lange im Fegfeuer verbleiben, bis von ihrem Kloster kein Stein mehr auf dem anderen stehe. Dann verschwand er. Jahrhunderte hindurch wurde für den armen Bruder Hilarius gebetet. 1782 wurde das Kloster aufgehoben und an seiner Stelle entstand ein Dörflein. Doch Bruder Hilarius wurde nicht vergessen, er müsse büßen, bis Karthaus "verrinne oder verbrinne".

Klosterzelle in Karthaus © Berit Mrugalska
Klosterzelle Nummer 4 im Großen Kreuzgang (=westl. Kreuzgang)
© Berit Mrugalska, 2. September 2006

Und diese Zeit kam. Es war am 21. November 1924. Ein verheerender Brand vernichtete alles bis auf den Grund, so daß vom Kloster wahrhaftig kein Stein auf dem anderen stehen blieb! Am dritten Tage nach dem Brande, am 24. November, Vormittag gegen 10 Uhr, standen eine Frau und ein Mann nebeneinander vor den rauchenden Trümmern. Plötzlich sahen sie aus der früheren Zelle Nr. 1 im oberen Großen Kreuzgang, die durch die Schneelahn am 12. Dezember 1916 größtenteils zerstört worden war, den eingemauerten Kartäuser kommen. Er ging an dem rechtsseitigen ehemaligen Speisesaal langsam vorbei, trat in die gotische Spitzbogen-Türrahmung, hielt dort einen Augenblick, beugte tief den Kopf und den Rücken wie der Priester beim Staffelgebet und schwebte dann lichtumflossen durch den Kleinen Kreuzgang nach dem früheren Priorat, dem "Hohen Stock" zu, wo er allmählich verschwand.

Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 52.