Der erblindete oder geblendete Kartäusermönch
Beim Bau des Kartäuserklosters Allerengelberg wurden alle nur möglichen Schutzvorrichtungen gegen Naturgewalten angebracht. Nicht minder bemühten sich die Ordensleute, die ihnen durch die Menschen drohenden Gefahren zu bannen. Darum schleiften sie um 1350 die Schnalsburg. Sie übernahmen auch die Verteidigung der ihnen anvertrauten Heiligtümer gegen Menschenfrevel, und so wurde auch die Klostermauer durch Verstärkung und Erhöhung sowie mit Zinnen und Schießscharten um das Jahr 1586 wehrhaft gemacht. Ihre Friedfertigkeit zeigten sie dadurch, daß sie die Ringmauer durch eine nur von außen zugängliche Kapelle unterbrachen. Es ist die Grotte, wo unser Herr im Grabe liegt.
Die Grabkapelle vom Kloster Allerengelberg in Karthaus (Schnalstal, Vinschgau)
© Wolfgang Morscher, 2. September 2006
Einst war in Allerengelberg ein tugendhafter Bruder, der als Bildhauer alle weit überflügelte. Von seinen Oberen erhielt er einst den Auftrag, die Figur unseres Herrn für die Heiliggrabkapelle zu schnitzen. Doch während ihm seine vielen früheren Schnitzereien spielend leicht gefallen waren, wollte ihm jetzt nichts Rechtes mehr glücken. Da begab es sich, daß ein heiligmäßiger Mitbruder des Klosters starb. Der Bruder erblickte darin eine Eingebung des Himmels und bediente sich des Leichnams als Modell. Er mußte sich aber sehr beeilen, denn am nächsten Tage sollte der Tote beerdigt werden. Kaum hatte er die groben Umrisse gemeißelt, schlief er vor Erschöpfung ein. Als am nächsten Morgen der "Engel des Herrn" geläutet wurde, erwachte er, und siehe! da war das Werk von den heiligen Engeln meisterhaft vollendet.
"Unser Herr im Grabe" in der Grabkapelle/Grotte der Klosteranlage in Karthaus
die überlebensgroße Holzskulptur stammt aus der Barockzeit, um 1720
© Wolfgang Morscher, 2. September 2006
Je mehr die Mönche dieses Geheimnis zu wahren suchten, um so rascher verbreitete es sich und um so mehr fromme Beter kamen, und um so mehr wuchs die Zahl der Tadler und Neider. Das nahm sich der gute Bruder schwer zu Herzen, daß er Gott anflehte, er möchte so verfahren, daß er seinen Mitmenschen keinen Anlaß zur Sünde mehr geben könne. Nach diesem Gebete war er erblindet.
Eine andere Legende erzählt, daß der böse Feind die Herzen vieler so sehr mit Grausamkeit erfüllte, daß sie den Meister dieser herrlichen Schöpfung des Augenlichtes beraubten. Mit innerer Freude ertrug der gesichtslose Mönch diese Marter, verzieh gerne den verblendeten Peinigern, die in der Finsternis wandeln und nicht wissen, wo sie hingehen. Ihm selbst scheint jetzt noch viel stärker als vordem das wahre Licht, das Gott ist, in welchem es keine Finsternis gibt.
Das Kapellchen mit der Heilandsfigur, die nach dem Urteile aller Kenner ein vollendetes Meisterwerk christlicher Kunst ist, bildet einen einzigartigen Andachtsort für glaubensvolle Beter. Ohne Unterlaß pilgerten auch seither viele Bresthafte und Leidende dorthin und suchten mit großem Gottvertrauen Hilfe in allerlei Nöten und erflehten Trost und Segen für die Wanderschaft in die Ewigkeit. Den Dank vieler, denen hier wunderbare Gebetserhörung zuteil wurde, verkünden der Mit- und Nachwelt die angebrachten Votivtafeln.
Zahlreiche schwere Stürme sind inzwischen über unser Alpenland verheerend und zerstörend dahingebraust und haben vieles verändert. Auch die einsame und friedliche Kartause Allerengelberg hatte in ihrem viereinhalbhundertjährigen segensreichen Bestehen viele harte Schicksalsschläge auszuhalten gehabt. Aus den einstigen Ordensgebäuden erwuchs nach der Aufhebung eine winzige Ortschaft, Karthaus im Schnalser Tale, die 1924 durch eine Feuersbrunst in Schutt und Asche gelegt wurde, wobei auch die noch vorhandenen kümmerlichen Klosterüberreste der Vernichtung anheimfielen.
Doch kurz vor der Heiliggrabkapelle machte die entfesselte Naturgewalt Halt und der Nordostwind legte sich plötzlich. Dadurch blieben, wie von einer Himmelsmacht geschützt, zwei weitere Kunstwerke unversehrt, die ebenfalls häufig unserem erblindeten Kartäuserkünstler zugeschrieben wurden: das eine ist die schöne, später allerdings einige Male umgestaltete Kreuzigungsgruppe neben dem Kirchhofe, deren Betbank und Einfriedungsgitter samt den benachbarten Bäumen von den Flammen erfaßt und teilweise zerstört wurden; sie selbst aber blieb bewahrt. Und ebenso verschonte das wütende Feuer als einzigen Gegenstand in der Kirche das Kruzifix am Triumphbogen, wo es rauch- und rußgeschwärzt heute noch in dem wiederaufgebauten Gotteshause zu sehen ist.
Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 53.