UNHEIMLICHE LATSCHANDER

Es gibt eine Menge von örtlichkeiten im Land, die noch vor fünfzig Jahren jeden Wanderer auf unheimliche Weise beeindruckten, besonders wenn die betreffende Gegend als Schauplatz von Raub und Mord verrufen war.

Als solche üble Strecke galt auch das Talstück von der Latscher Brücke bis Kastelbell, die sogenannte Latschander. Sie stand noch aus der Zeit der alten Latscher Brücke so allgemein in schlechtem Ruf, daß kaum ein Wanderer dieses Straßenstück durchschritt, ohne sich an Gewalttätigkeiten verschiedener Art zu erinnern, die hier vorgefallen waren und von denen er erzählen hörte.

So hatte der vor vielen Jahren verstorbene Kaplan Simon Platzer, der angeblich einst durch die Latschander ging, nur dem Umstand sein Leben oder wenigstens seine Uhr und Barschaft zu verdanken, daß er eine Pistole bei sich trug. Spätabends von Kastelbell Latsch zuwandernd, bemerkte er, daß ein Strolch ihm folgte. Als er an einer unübersichtlichen Stelle anlangte, sprang plötzlich vor ihm ein zweiter Gauner auf die Mitte der Straße, so, daß Platzer mit einemmal sich von den zwei Halunken in die Mitte genommen sah. Der Kaplan ging jedoch ruhig und festen Schrittes seinen Weg. Als er aber dem Wegelagerer auf zehn Schritte nahe gekommen war, zog er seine Pistole aus der Tasche und rief dem Strolch zu: "Aus dem Weg oder ich schieß dich nieder!" Der Räuber wählte das erstere, und so kam der geistliche Herr wohlbehalten heim.

Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 211