Der Leichenzug auf Obermayr

Vorzeiten hatten die Bauern noch die Möglichkeit, mehrere Mägde zu halten. Sie waren die Ehehalten. Außer dem Lohne überließ der Bauer den Dienstmägden auch ein Stück Acker, auf dem die Mägde Hanf säten für ihren Gebrauch. Aus den Hanffasern spannen sie dann das Garn für hausgewirktes Tuch. So konnten sie sich Jahr für Jahr einen Ballen Haustuch auf die Seite legen für ihre spätere Heirat, so Gott will. Diese Zubuße zum Jahreslohne war den Mägden willkommen.

Wiederum hatten die Mägde die Hanfstengel geröstet und aufgeschichtet. Jetzt konnten sie gebrechelt werden mit einer Grammel. Zum Brecheln hatten sie sich den Platz oberhalb des Stadels auf Obermayr auserwählt. Hier im Freien konnten die Abfälle leichter verfliegen als drinnen im Stadel. Nach dem Abendessen kamen die Mägde zum Stadeltor herunter und grammelten büschelweise ihren Hanf.

Einige Burschen hatten es darauf abgesehen, die Mägde bei dieser Arbeit zu erschrecken. Sie wollten einen Leichenzug nachmachen und still an den Mädchen vorbeiziehen im Halbdunkel der Nacht. Sie holten die Totenbahre aus der Beingruft und das weiße Leichentuch. Einer der Burschen legte sich auf die Bahre und wurde zugedeckt. Vier andere waren die Träger, einer trug die brennende Totenlaterne voraus. Das alles war bald geschehen, und der Leichenzug konnte sich in Bewegung setzen. Sie kamen langsam hinter dem Stadel herauf und wollten ganz nahe an den Dienstmägden vorübergehen. Kaum war der Leichenzug in ihre Nähe gekommen, siehe, auf der Gegenseite drüben zog gleichfalls ein Leichenzug in gleicher Aufmachung herauf und ausgerechnet hätten sich beide Leichenzüge bei den Mädchen treffen müssen. Ein gespensterhaftes Licht wurde vorausgetragen. Da verloren die Burschen alle Fassung, stellten die Bahre nieder und rannten wie verfolgt davon. Niemand wagte es, noch einmal umzuschauen. Auch dem Burschen auf der Bahre war unheimlich zumute. Ohne recht zu wissen, was vorgefallen war, kroch er unter dem Leichentuch hervor und lief den anderen nach.

Unter dem Stadel fanden sie sich wieder und fragten sich, was das für ein geisterhafter Leichenzug gewesen sei. Sie wollten hinaufgehen und ihre Bahre samt Tuch an ihren alten Platz bringen. Vom anderen Leichenzug war keine Spur mehr zu sehen. Anstatt andere in Schrecken versetzt zu haben, gingen sie selber erschreckt heim.

Auch die Mädchen waren inzwischen in die Stube gekommen. Die Knechte saßen schweigsam beisammen. Einer hatte den Mut und fragte, ob sie sich beim Brecheln nicht gefürchtet hätten. Die Mädchen antworteten, sie wären bei ihrer Arbeit in keiner Weise gestört worden. Darüber verloren die Knechte noch mehr die Ruhe und erzählten von selbst den Spaß, den sie mit dem Leichenzug den Mädchen hätten antun wollen. Alle sahen an diesem Erlebnis den Finger Gottes: Mit heiligen Dingen soll man nicht Spaß treiben.

Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 107.