Das Naturnser Prokuluskirchlein
Altersgrau wie die Felsen, die hinter ihm aufsteigen, sich zu Wand, Grat und Joch türmen, steht das Naturnser Prokuluskirchlein wie ein ungefüges, vergessenes Riesenspielzeug einer anderen Zeit im freien Feld. Von seiner Erbauung erzählt man sich folgende Sage: In alter Zeit lebten in dieser Gegend zwei starke Riesen, die Brüder waren. Der eine von ihnen hauste in einer Höhle über dem Tal, wo heute der Fußsteig vom Naturnser Schießstand nach dem Schnalstal abbiegt, der andere hatte seinen Unterschlupf auf dem hohen Vigiljoch, von wo aus er weit das Land überschauen konnte. Da sich die beiden in brüderlicher Liebe zugetan waren, besuchten sie sich häufig gegenseitig, trotz des beschwerlichen und weiten Weges, den sie aber mit ihren Riesenschritten leicht und schnell zurücklegten. Sie waren jedoch beide sehr träge, und da sie jeden überflüssigen Schritt scheuten, pflegten sie sogar die geringe Anhöhe von der Höhle des einen bis zum Talgrund auf den Steinplatten hinabzurutschen. Durch das wiederholte Zutalegleiten und das große Körpergewicht der beiden wurden die Felsen bald glattgeschliffen, was heute noch am dortigen Gestein deutlich sichtbar ist. Die zwei Riesenbrüder waren fromm und gottesfürchtig. Als sie nun feststellten, daß das kleine, bescheidene Holzkirchlein im Dorf baufällig wurde, beschlossen sie, daß jeder in der Nähe seiner Wohnung ein schönes Steinkirchlein erbauen solle. Hierzu wählte sich der eine die einsame höchste Bergkuppe auf dem Vigiljoch, wo eine heidnische Opferstätte stand, während der andere, von seiner Behausung aus, einen schweren Felsbrocken mit großer Wucht ins Tal hinab schleuderte, um dort, wo er auffiel, das altehrwürdige Sankt-Prokulus-Kirchlein zu errichten. Ohne Verzögerung und mit großem Vergnügen gingen sie an die Ausführung ihres Vorhabens. Da sie jedoch nur einen einzigen Eisenhammer besaßen und die Kunst des Eisenschmiedens nicht kannten, kamen sie überein, sich gegenseitig dieses notwendige Werkzeug auszuborgen. So schleuderte der eine, wenn er rasten wollte, dem anderen, der dann arbeiten mußte, den schweren Hammer mit einem wohlgezielten Wurfe zu. In kurzer Zeit standen die Kirchlein vollendet da; ihre Erbauer freuten sich sehr über das gelungene Werk. Auch die Leute der Umgebung fanden Gefallen an den neuen Gotteshäusern und beschenkten deshalb die Riesen so reichlich mit Geld und Gut, daß sich diese damit im Tal unweit der Höhle des einen eine herrliche Riesenburg erbauen konnten. Während der eine Riese sich nach vollendetem Bau wieder auf seine einsame Bergeshöhe zurückzog, wählte sich der andere die schöne Mesnertochter im Dorf zu seiner Frau. Die zwei lebten von nun an recht vergnügt und noch lange in ihrem prächtigen Schloß, taten Gutes und bekamen viele Kinder, die alle riesengroß wurden. Noch jetzt sagt man in der Naturnser Gegend von großen Menschen, daß sie von diesen Riesen abstammen.
Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 326 f.