Das Sonnenberger Bäuerlein
Ein armes Bäuerlein saß vor vielen Jahren am Sonnenberg unter einer knorrigen Zwergeiche und grübelte so vor sich hin. Sein Hof stand auf kargem Boden, trotz mühevoller Arbeit gab er kaum das Allernotwendigste zum Leben für die große Familie her. Da war guter Rat teuer. Siehe da, schon war der Teufel zur Stelle und bot seine Hilfe an. Er hoffte, mit Geld die Seele des Bäuerleins in Not zu gewinnen.
Das schlaue Bäuerlein ging überraschend schnell auf Satans Angebot ein. Da man sich noch auf einen Zeitpunkt einigen mußte, zeigte es auf die Eichenblätter, die bereits goldgelb am Baume hingen und sagte zum Teufel, du gibst mir Geld und ich fahre mit dir zur Hölle, sobald diese Eiche ihr letztes Blatt verloren haben wird. Der Teufel war einverstanden und der Vertrag wurde mit einem Tropfen Blut besiegelt.
Das Bäuerlein war kein armes Bäuerlein mehr, der Weg zum Hof wurde hergerichtet, das Hausdach neu gedeckt und viele schon längst nötige Sachen wurden eingekauft. Man sah es an den lachenden Gesichtern der Kinder, daß durch das viele Geld auf dem Hof ein bisher nie da gewesener Wohlstand eingekehrt war. Der Teufel hingegen zählte verwundert immer wieder die fallenden Blätter. Er konnte nicht verstehen, daß immer noch so viele Blätter am Baume hingen. Er wußte nicht, daß die Eichenblätter nicht eher abfallen, bevor die neuen Blätter nachgewachsen sind.
Der Teufel begann nervös zu werden. Er erwartete kaum mehr den Augenblick, da er die Seele des Bäuerleins holen konnte. So bemerkte er gar nicht die freudig zitternden Finger des Bäuerleins, die auf die frischen Blätter zeigten. Trotz seiner Gier nach der Seele dieses Menschenkindes mußte er wieder einmal einsehen, daß er der Betrogene war und die Wette verloren hatte. Da schrie der Teufel fürchterlich auf und rannte tobend über den Sonnenberg, zerriß mit seinen scharfen Krallen die Eichenblätter und heulte, daß Hasen und Füchse erschreckt ihren Bau verließen und davonliefen. Alle Eichen haben aber seither gezackte Blätter, wie hier die Eichen am Naturnser Sonnenberg.
Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 341 f..