DIE NIEDERJÖCHLER

Vom Schnalstal führt ein Pfad über den Niederjochferner nach Vent im ötztal. Auf jenem Ferner wohnten Eismännlein, die man dort auch Eisnörggelen oder kurz "Niederjöchler" nannte.

Hoch oben auf dem Niederjoch trug es sich einst zu, daß ein Hirt sich im Unwetter bei strenger Kälte verirrte, todmüde sich auf eine Steinplatte setzte und einschlief. Auf einmal wurde er wachgerüttelt und geschüttelt. Wie er endlich aus dem erstarrenden Schlummer auffuhr, standen zwei "Niederjöchler" vor ihm, faßten ihn gemeinsam an und schleppten ihn bis zum Abstieg ins Schnalser Tal. Durch die andauernde Bewegung wurde der Mann wieder frisch und erreichte glücklich das Tal. Der Hirt, der hernach noch lange lebte, ließ zum Dank an jener Stelle ein Marterl errichten.

Einst suchte der Rofenhofer von Vent eine Magd aus dem Schnalstal, nachdem ihm das frühere Dienstmädchen kurz vor der Heumahd gestorben war. Wie nun der junge Bauer, den der Rofner zu diesem Zweck nach Schnals geschickt hatte, am Niederjoch anlangte, brach ganz plötzlich ein Unwetter los. Der Bursche geriet darüber in große Furcht und dachte schon an eine schnelle Rückkehr. Da erschien ein Eismannl mit langem, weißem Bart und sagte zu ihm: "Fürchte dich nicht, doch halt dein Wort, denn im Eise gibt es Rächer." Das Unwetter verzog sich, und der Rofner konnte bei heiterem Himmel ins Schnalstal hinuntersteigen.

Er fand dort bald eine brave Dirn, die Tochter eines Freundes seines Vaters. Schon auf dem Heimweg gewann er das arme, doch schöne Mädchen so lieb, daß er ihm auf dem Niederjochferner Treue und Heirat gelobte. Als der alte Rofner starb, bat der junge Bauer, nach Brauch und Sitte, Verwandte und Bekannte zum Begräbnis seines Vaters. Dabei lernte er in Schnals eine reiche Bauerntochter kennen, die er kurze Zeit hernach heiratete. Kaum hatte die verlassene Magd davon vernommen, da stieg sie auf den Niederjochferner, um in ihre Heimat zurückzukehren. Auf dem Wege dorthin traf sie an der nämlichen Stelle, an der der junge Rofner ihr die Treue geschworen hatte, mit dem jungen Brautpaar zusammen. Sie machte dem Untreuen bittere Vorwürfe; er aber erwiderte ihr leichthin, ihm sei nie Ernst damit gewesen, ein armes Mädchen zu heiraten.

Auf diese frevelhafte Rede hin hüllte unverzüglich ein dichter Nebel das Brautpaar ein, der Ferner öffnete sich und verschlang den Wortbrüchigen samt seinem Weib. So rächten die Eismännlein den Bruch des gegebenen Wortes. Die arme, verstoßene Magd kam bleich und krank nach Schnals hinunter, wo sie noch im gleichen Jahr starb.

Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 232 f.