Der Vogel Phönix



Der Vogel Phönix war auf und auf voll der schönsten Federn. Er hatte gelbe und rote, grüne und blaue. Er war auch ein gescheiter Vogel, wußte viele verborgene Dinge und konnte überall helfen. Nur ging er auf die Kinder los, zerhackte sie mit dem Schnabel und fraß sie auf.

Es hatte sich einmal ein armes Hirtenbüblein vergangen, fand nicht mehr heim und kam in ein fremdes Dorf. Dort erzählten die Leute von drei großen Übeln und niemand wußte, wie man da helfen könnte. Der König des Landes hatte eine schöne Tochter, aber sie konnte kein Wort reden. Auf einem Acker stand ein schöner Feigenbaum, der keine Früchte trug. Und es gab im Lande eine Stadt, die kein Wasser hatte. Wer den Mut habe und zum Vogel Phönix gehe und um Rat frage, der bekäme dafür tausend Taler ausbezahlt. Er müsse aber drei Vogelfedern mitbringen.

Alle Leute des Landes waren traurig, weil niemand Abhilfe wußte, und niemand sich zum Vogel Phönix hinzugehen getraute. Dies war nämlich sehr gefährlich. Das arme Hirtenbüblein wollte sich das Geld verdienen und wanderte zum Vogel Phönix. Der war aber nicht daheim, nur seine Frau öffnete ihm und fragte den fremden Knaben freundlich, warum er hieher gekommen sei. Er klagte der guten Frau die drei großen Übel des Landes. "Armer Knabe", sagte die gute Frau, "da werde ich den Vogel Phönix fragen. Du mußt unter die Bettstatt kriechen, daß dich der Vogel nicht sieht. Sonst ist es um dich geschehen! Schreibe dir alles gut auf, was der Vogel Phönix redet!" — "Liebe Frau, reiß dem Vogel auch drei Federn aus; diese muß ich dem König zum Beweise bringen!"

Am Abend kam der Vogel heim und gleich rief er: "Ich rieche Menschenfleisch!" — "Das mag schon sein, lieber Vogel, ich habe heute Haare verbrannt und deswegen kann es so riechen." Der Vogel ging schlafen. Während er schlief, riß ihm die Frau eine Feder aus und warf sie sogleich unter die Bettstatt hinein zum Hirtenknaben. 0 weh, da wachte der Vogel auf, wurde zornig und schrie: "Laß mich in Ruh, Frau, du weckst mich ja auf!" — "Ach, Vogel, ich habe einen bösen Traum gehabt, der mich nicht schlafen läßt!" — "Was hast du geträumt?" — "Der König des Landes hat eine sehr schöne Tochter und diese kann kein Wort reden! Mir erbarmt sie so sehr. Sag mir, was muß man denn da tun, damit sie wieder reden kann?" — "Das geht mich nichts an und dich nichts an! Ich sage es nicht!" — "Aber bitte, sag es mir, sonst habe ich keine Ruhe!" — Endlich gab er den Bitten nach und sagte: "Hinter dem Altar der Kirche sitzt ein Frosch, der im Maul eine Hostie hat. Wenn ein Priester diese Hostie aus dem Maul des Frosches herausnimmt und der Tochter auf die Zunge legt, so kann sie wieder reden." Die Frau war zufrieden, legte sich hin und der Vogel Phönix schlief wieder ein.

Es dauerte nicht lange, da riß die Frau dem Vogel wieder eine Feder aus und warf sie schnell unter das Bett. "Wast hast du, Frau? Heute rupfst du mir alle Federn aus! Laß mich schlafen!" — "Ach, Vogel, ich habe aufs neue einen bösen Traum gehabt, der mich nicht mehr schlafen läßt. Sag mir, was man dagegen tun kann!" — "Was hat dir geträumt, daß du so erschrocken bist?" — "Da wächst auf einem Acker ein großer Feigenbaum und der trägt keine Frucht. Wie könnte er wieder Früchte tragen?" — "Das geht mich nichts an und dich nichts an! Ich sage es nicht!" Weil die Frau nicht nachgab, so sagte er es ihr: "An den Wurzeln des Feigenbaumes muß man aufgraben und alle Engerlinge wegräumen." Damit hatte er den Wunsch der Frau erfüllt und eine Zeitlang war wieder Ruhe.

Ein drittes Mal riß die Frau dem Vogel eine Feder aus und warf sie geschwind unter das Bett hinein. Der Vogel schreckte vom Schlafe auf und schrie: "Heute läßt du mir aber gar keine Ruh! Warum reißt du mir fortwährend meine Federn aus?" — "Ach, verzeih mir, Vogel, ich habe wieder einen sehr bösen Traum gehabt! Ich kann nicht mehr weiterschlafen! Denke dir, in unserem Lande ist eine Stadt, die gar kein Wasser hat. Die guten Leute haben nichts zu trinken. Wie können sie wieder zu Wasser kommen? Sag es mir, bitte!" — "Das geht mich nichts an und dich nichts an! Schlage dir den bösen Traum aus dem Kopfe!" Die Frau bat so lange, bis der Vogel zu reden anfing. "Zu dieser Stadt führt ein großer Waserwaal, Im Waal versteckt liegt ein schrecklicher Trakt (Drache), der alles Wasser auftrinkt. Dieser Trakt muß erschlagen werden, dann wird die Stadt das Wasser bekommen." Damit hatte der Vogel Phönix alles ausgesagt, was die Frau und das versteckte Hirtenbüblein erfahren wollten.

Am anderen Morgen stand der Vogel sehr früh auf und ging wieder davon. Das Büblein fragte: "Wohin ist der Vogel gegangen?" — "Armer Bub", sagte die Frau, "du mußt jetzt einen anderen Weg gehen, damit du dem Vogel nicht begegnest, sonst frißt er dich gleich auf." Das Büblein bedankte sich herzlich und machte sich auf zum König. Dem legte er die drei Federn des Vogels Phönix hin und sagte ihm die drei Antworten. Der König ließ das alles ausführen und es erfüllte sich alles. Dem Hirtenbüblein zahlte er die tausend Taler aus. Von jetzt an brauchte es keine Not mehr zu leiden.

Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 98.