DER RIESE ORTLER

In uralter Zeit lebte und herrschte in den wilden Schluchten und Tälern der rätischen Alpen ein Riesengeschlecht, das in unzugänglichen Felsenhöhlen hauste und sich vom Fleische des wilden Auerochsen und vom Mark des Bären nährte.

Unter diesen Riesen wuchs im Vinschgau ein gar stattlicher Knabe namens Ortler auf, der schon an Länge die höchsten Waldbäume überragte. Wo ihn diese im Gehen hinderten, riß er sie wie Grashalme aus oder trat sie wie ein Schilfrohr unter seine Füße.

Als der Riese Ortler immer höher und höher wuchs, so daß er sogar die Häupter der umliegenden Berge überragte, schwoll in ihm ein solcher Hochmut, daß er die Welt unter sich mit verächtlichen Blicken musterte. Da stieg der Stilfser Zwerg aus dem Tal herauf, kletterte frech über Beine, Leib und Schultern auf das Haupt des Riesen, schlug dort übermütig einen Purzelbaum und sang munter drauflos:

Ach, Riese Ortler, wie bist du noch klein,
kleiner als das putzige Nörggelein.
Du bist gewachsen soviel tausend Jahr,
streckst deine Nase in den Himmel gar.
Was nützt dir das, was nützt dir das?
Der Stilfser Zwerg, der Nudelhopf,
ist größer doch, ist größer doch
heroben da auf deinem Kopf!


Das verdroß den Riesen Ortler sehr, er wollte den boshaften Zwerg ergreifen und in die Tiefe schleudern. Da fühlte er zu seinem Schrecken, daß er ganz steif und lahm geworden war. Arme und Beine versagten ihren Dienst. Wie er so über seine traurige Lage nachsann, erstarrte er gänzlich zu ewigem Eis und Schnee.

Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968, S. 149 f.