Die zwei Stiefel
Wirtshausausleger in Karthaus, Schnalstal
© Wolfgang Morscher, 2. September 2006
Beim Rosenwirt in Karthaus arbeitete vorzeiten ein junger Knecht. Er hatte ein schweres Tagewerk zu erledigen. In jenen fernen Zeiten war der Penaudhof noch bewirtschaftet. Im geräumigen Holxhaus schaltete und waltete die schöne Haustochter von früh bis spät. Der Rosenwirtsknecht hatte auf die Penaudertochter ein Auge geworfen. Er scheute nicht den weiten Bergweg, um hie und da zu seiner Erwählten zu kommen. Damals trugen die Schnalser Männer alle noch die langen, schweren Lederstiefel. Bei Tag mußte der Knecht bei seiner Arbeit bleiben, bei Nacht machte er sich auf den Weg, der immerhin anderthalb Stunden weit war. Dem guten Knecht kam es höchst sonderbar vor, daß er von einer unheimlichen Gewalt gezwungen wurde, diesen Almweg jede Nacht zu gehen. Er wollte doch ein rechtschaffener Bursche sein und nichts auf unrechten Wegen erreichen. Einst fragte er den Kapuzinersammeipater von Schlanders um ein Heilmittel, daß er von diesem Banne erlöst würde. Der Pater gab ihm den Rat, er solle abends schlafen gehen und ruhig im Bette bleiben, die beiden Stiefel vor sein Bett stellen und in jeden einen Holzschlegel [großer Holzhammer] hineinstecken. Der Knecht befolgte den Rat, war aber doch neugierig, was da mit den Stiefeln geschehen sollte. Zu seiner großen Verwunderung machten sich die beiden Stiefel auf und davon, gingen zur Kammertür hinaus und verschwanden. Es dauerte lange Zeit, da kamen sie wieder zur Kammertür herein. Mit Schrecken gewahrte der Knecht, daß die Schlegel voll Blut waren! Diese Schlegel hatten in dieser Nacht die Penaudertochter totgeschlagen. Von der Zeit an hatte der Knecht seine Ruhe und war vom Banne erlöst.
Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 103.