STADT TANNENEH
An einer Stelle des jetzigen Langtauferer Ferners, der ein Arm des gegen Schnals und Ötztal sich hinziehenden Vernagtferners ist, befand sich eine große, reiche Stadt, die Tanneneh hieß. Die Einwohner derselben führten ein gar üppiges Leben, denn sie besaßen alles in Hülle und Fülle. Dies dauerte aber nicht lange. Denn Ausgelassenheit und Unbarmherzigkeit stürzten die stolze Gemeinde ins Verderben.
Einmal kam ein armer Pilger nach Tanneneh und bat um Herberge und Almosen. Die übermütigen Städter aber wiesen den armen Fremdling mit Hohn von ihren Türen und hetzten ihn sogar vor die Stadt. Da wurde der Arme zornig und sprach:
"Stadt Tanneneh,
weh dir, weh!
Es schneiet Schnee
und apert nimmermeh."
Die Worte des Alten gingen haarklein in Erfüllung. Es begann noch
am nämlichen Tage zu schneien und schneite, bis an der Stelle von
Tanneneh ein Gletscher sich erhob. jetzt noch hört man in der Tiefe
des Eisberges ein Regen und Leben wie in einer sehr belebten Stadt, und
zuweilen soll sich morgens oder abends noch der Stadtturm aus dem Eise
erheben, so daß man ihn sehen kann. (Langtaufers.)
Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 650, S. 368