WIE DIE VINSCHGAUER ZU LÜGNERN WURDEN

Als der Herrgott den Vinschgau erschuf, wollte er ein besonders herrliches Werk ausführen. Er umgab das Tal mit den höchsten Bergen, breitete dazwischen eine fruchtbare Ebene aus und beschenkte das ganze Gebiet mit einer besonders guten Luft. Dem schönen Land entsprechend, setzte er die besten Leute hinein: die Vinschger. Sie waren "gerade Michl" und grundehrliche Menschen. Aus lauter Neugierde zogen einige von ihrer Heimat fort, hinaus in die Fremde. Als sie heimkehrten, brachten sie das Laster der Lüge mit. Ein Laster, dem die Vinschger bisher durchaus nicht gefrönt hatten. Darum versammelten sich die Ältesten des Gaues, riefen die Heimkehrer vor Gericht und zogen sie zur Rechenschaft. Die Lügner aber verteidigten sich, indem sie sprachen: "Draußen in der Welt blieb uns nichts anderes übrig, als das Lügen zu lernen, die Leute vertrugen die Wahrheit nicht." Daraufhin wurden die Angeklagten vom Gerichtshof scharf getadelt, weil sie nun das Lügen auch in den Vinschgau eingeschleppt hatten. Zudem wurde beschlossen, daß jeder Vinschgauer, der im Sinne hatte, auszuwandern, vorher das Lügen erlernen mußte, damit er dann in der Fremde weiterkäme. Zu diesem Zwecke wurden eigene Kurse eingeführt.

Quelle: Winkler Robert, Volkssagen aus dem Vinschgau. Bozen 1968. S. 257