Das Vronele vom Platthof
Der Bauer am Platthof hatte ein braves Mädchen, das Vronele. Es war vier Jahre alt. Gerne wollte es mit dem Vater sonntags zur Kirche nach St. Kathrein hinaufgehen. Der Vater wehrte ab, weil sie über den schmalen Bachsteg gehen mußten. Einmal geschah es, daß das Vronele im Hause verschwand. Von der Haustüre aus riefen sie, suchten unterhalb des Hauses und die ganze Umgebung ab. Das Vronele war nicht mehr zu finden. Es vergingen zwei Tage. "Das Kind ist verunglückt", sagte traurig der Vater. Daher machte er sich auf den Weg nach St. Kathrein und wollte dem Kuraten den Todesfall melden. Der Herr Kurat tröstete den Vater, erinnerte ihn an das Jesuskind, das auch drei Tage verloren war und am dritten Tage gefunden wurde.
Betrübt ging der Vater den Berg hinunter und suchte das Ufer des Schnalser Baches ab. Richtig, am anderen Ufer drüben in einer Sandnische, entdeckte er sein liebes Vronele. Es verhielt sich ruhig, weinte nicht und zeigte sich gar nicht schwach. Eilig lief der Vater zur Sandhöhle hinab und fragte: "Vronele, wie geht es dir? Hast du nicht bald Hunger?" — "Nein, Vater, ich habe nicht Hunger. Ich habe schon zu essen bekommen!" Der Vater führte das Kind heim. "Gott sei Dank", rief die Mutter, "jetzt bring ich dir gleich etwas zu essen." — "Mutter, ich habe nicht Hunger, sie haben mir schon zu essen gebracht!" Wer aber dem Kinde zu essen gebracht hatte, war von ihm nicht herauszubringen.
Quelle: Die Kartause Allerengelberg im Schnalstal, Rudolf Baur, Bozen 1970, S. 106.