VERSCHWUNDENE WÖCHNERIN
Ob dem Haider See sieht man hoch im Wald droben eine Kirche, dem hl. Martin geweiht. Von da geht ein Almtal hinein, in dem einst ein Bauernhof stand; die Flächen der Wiesen sind noch deutlich erkennbar. Eines Tages ging der Bauer mit seinem Weibe nach Burgeis, um sie nach dem Wochenbette aufsegnen zu lassen. Bei der Martinskirche sagte sie: "Jetzt habe ich den Wachsstock vergessen!" Sie wartete bei der Kirche und der Bauer lief zum Hof hinein um den Wachsstock. Als er herauskam, war sein Weib fort, die Schuhe aber lagen im Schnee. In der Meinung, sie sei voraus, eilte er fort nach Burgeis. Doch weder auf dem Weg, noch in Burgeis bei allen Verwandten, wo der Bauer fragte, war sie zu finden. Wieder zu Hause angelangt, hörte er oben im Walde weinen und wehklagen; er ging hinauf, fand aber niemanden. Dies wiederholte sich mehrmals. Als alle Nachforschungen nach der Frau vergeblich blieben, verkaufte er den Hof und zog nach Burgeis, wo er aus Kummer über den Verlust seines Weibes tiefsinnig wurde und endlich in die Etsch sprang. Der Hof wurde in eine Alm umgewandelt.
Quelle: Der Sammler, Beiträge zur tirolischen Heimatkunde. Hrsg Franz Innerhofer, 5 Bände, Meran 1906 / 1911, II, S. 135