DER RÜFEGEIST



Es war zur Zeit, als das Ebenholz noch zu Schaan gehörte. Das Gebiet um die Rufe war noch unverbaut; nur ein reicher Mann hatte draussen Haus und Hof, und die Felder gehörten ihm, so weit man sah.

Eines Morgens kam eine Frau zu ihm und bat: "Gib mir eine Pflanze aus deinem Garten, mein Kind ist krank, und nur die Wurzel dieses Krautes kann ihm helfen". Gleichgültig und roh wies er die Mutter ab. In wenigen Tagen starb das Kind.

Bald darauf bettelte eine andere Frau um ein Mass Korn, denn sie und ihre Kinder hatten nichts mehr zu essen. Das machte dem Reichen gar nichts aus, denn er hatte ja genug, und er jagte die Frau fort. Die Kinder aber verhungerten.

Ein drittes Mal kam eine Witwe und bat ihn, Knechte zu schicken, damit sie das Dach ihres Hauses mit Steinen beschweren. Der Bauer jagte auch diese Frau davon. In der Nacht heulte der Föhn durch das Land, drückte das Dach des Hauses ein und begrub Frau und Kinder unter den Trümmern.

Von nun an hatte der hartherzige Mann immer den Drang in sich, zur Rufe hinaufzugehen, er wusste selbst nicht warum, und hatte unheimliche Angst. Als er es einmal doch tat, erschienen ihm die Menschen, deren Tod er verschuldet hatte. Plötzlich donnerte es, die Rufe rauschte wie noch nie und begrub den Reichen unter sich und mit ihm Haus und Hof. Sein Gesinde war in dieser Nacht gerade in Schaan beim Tanz.

Wenn Vollmond ist, schwebt der Geist des hartherzigen Bauern über die Rufe, und man kann sein verzweifeltes Kreischen hören. Noch immer hat seine Seele keine Ruhe gefunden.

Quelle: Sagen aus Liechtenstein, Otto Seger, Nendeln/Liechtenstein, 1966/1980, Nr. 34