61. [Die Tragerln]

An manchen Orten Nieder-Österreichs glaubt man, daß auch die den Uraundln sehr ähnlichen Trägerin fliegen und sich nach belieben unsichtbar machen können. Die Seele eines Menschen, der ein Tragerl in seinem Dienste hat, gehört aber dem Teufel, wenn er nicht im Stande ist, das Tragerl bei Lebzeiten zu verkaufen oder zu verschenken. Wer ein Tragerl hat, darf es niemandem sagen. Diese kleinen Wesen schlafen und sprechen nie, wohl aber essen sie, und zwar muß man ihnen immer eher zu essen geben, als man selbst ißt.

In einem Dorfe fiel einst, vom Frost erstarrt, vor dem Hause eines Bauern, während eines starken Schneegestöbers, ein Hühnchen auf den Boden. Der Bauer erbarmte sich desselben und nahm es zu sich in das Zimmer; kaum war das Hühnchen in der Stube, so stund neben demselben eine große Kufe voll des schönsten Kornes. Der Bauer sah nun, daß dieses Hühnchen ein Tragerl war, stellte es auf eine Ofenschaufel und warf es zum Fenster hinaus, weil man solche Wesen nicht angreifen darf, wenn man sie nicht behalten will. Das Hühnchen verschwand und kam nie wieder.

Wenn man ein Tagerl besitzt, so kann man durch dasselbe alles bekommen, was man nur wünscht. Man darf nur sagen: Tragerl trag! Die Trägerin nehmen aber die Sachen, welche sie bringen, von andern entfernt wohnenden Leuten, so daß diese dann nicht mehr wissen, wohin sie gekommen sind. Einmal besaß ein Bauer ein Tragerl und war durch dasselbe ungemein reich geworden, deshalb fürchtete er den Verdacht seiner Nachbarn, welche sehr leicht auf den Gedanken kommen konnten, daß er ein Tragerl besitze; darum sagte er zu demselben: „Tragerl trag selten.“ Das Tragerl aber verstand: „Tragerl trag Schwelten“, welches in der Volkssprache soviel als Pfosten bedeutet. Ein anderer Bauer besaß eine Menge solcher Schwelten. Das Tragerl nahm sie ihm weg und brachte sie seinem Gebieter. Hierdurch ward es verrathen, daß der Bauer ein Tragerl besitze, und deshalb verließ ihn dasselbe, so daß er wieder gänzlich verarmte, und dennoch gehörte seine Seele dem Teufel.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 260f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, April 2005.