12. [Der Plattensee]

Am Ufer des Plattensees lebte vor langer Zeit eine Bäuerin, welche eine ausgezeichnet schöne Ziegenherde besaß; keine andere in der ganzen Umgebung trug so schöne Haare, keine gab so gute Milch als diese. Das kam daher, daß sie eine Wiese am Ufer des Sees besaß, aus welcher ein Kraut wuchs, welches den Ziegen diese Schönheit verlieh. Die Bäuerin war aber auch stolz auf ihre Herde, und behauptete stets, es gebe im ganzen Lande keine schönere als die ihrige. Um aber Gewisheit darüber zu erlangen, gieng sie zu einer Hechse, und befragte sie. Die Hechse antwortete, es gebe nur eine Herde, welche die ihrige an Schönheit übertreffe. Diese Herde, sprach sie, hat sogar goldene Klauen und gehört einem Mädchen, welches mit derselben noch heint in diese Gegend kommen wird. Und zwar wird sie auf deiner Wiese am See ihre Herde weiden lassen. Darüber ward die Bäuerin so aufgebracht, daß sie beschloß das Mädchen um's Leben zu bringen und sich der Herde zu bemächtigen.

Am andern Morgen gieng sie hinaus zu der Wiese, welche auf einer Landzunge war, die tief in den See hinein ragte. Da sah sie die Herde mit den goldenen Klauen nahe am Ufer weiden, und das ganz in Ziegenfelle gekleidete Mädchen auf der äußersten Spitze der Landzunge stehen. Von Habgier und Eifersucht getrieben holte sie jetzt schnell ihren Pflug, bespannte ihn mit vier Ochsen und begann zwischen dem Mädchen und der Herde eine tiefe Furche zu pflügen. Als sich darauf ein Sturm erhob, wollte das Mädchen zurück eilen, aber das eindringende Wasser versperrte ihr den Weg und überflutete die Wiese, so daß sie in den Wellen umkam.

Nun wollte die böse Bäuerin die Herde wegtreiben, aber die Ziegen liefen, wie sie den Tod ihrer Herrin sahen, unaufhaltsam in den See ihr nach, so daß alle ertranken.

Alsobald versank auch die ganze Wiese, und das Wasser schlug über ihr zusammen.

Noch heut zu Tage findet man an den Ufern des Sees viele kleine Muscheln, welche die Form von Ziegenklauen haben; das sind die versteinerten Hufe der Herde.

In stürmischen finsteren Nächten sieht man die böse Bäuerin hinter einem glühenden Pfluge, vor den vier Ochsen mit feurigen Augen bespannt sind, die Wellen des Sees pflügen. Und das muß sie bis zum jüngsten Tage thun, zur Strafe für ihre Missethat.

Andere erzählen, an der Stelle des Sees sei früher ein Thal gewesen. Ein Hirt habe seine Ziegen unbarmherzig behandelt. Als er einst nach einer Ziege einen schweren Stein warf, entstund da wo der Stein niederfiel, ein solcher Wasserstral, daß das ganze Thal unter Wasser gesetzt wurde. So entstand der Plattensee.

Eine ähnliche Übelthat soll das entstehen des Neusiedler-Sees veranlaßt haben, von welchem das Volk glaubt, daß er mit der Donau in einer unterirdischen Verbindung stehe.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 363ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, Juli 2005.