54. [Die wilden Frauen im See]
Etwa 3 Stunden von dem Dorfe Hirschbergen entfernt ist der Plöckenstein. Dieser Berg wird durch mehrere Felsen gebildet, die verschiedene Höhe haben. Am Fuße des grösten dieser Felsen befindet sich der schwarze See, auf den man von einer Platte über demselben bequem herabsehen kann. Dieser Felsen so wie auch der See sind von vielen Geistern bewohnt. Den See bewohnen namentlich die wilden Frauen (diwoky ženi), welche die Leute in die Nähe locken, und sie dann hineinziehen. Das Aussehen derselben ist sehr wild; ihre langen Haare flattern verworren im Winde, und nur ein kleines rothes Käppchen bedeckt den Scheitel des Kopfes. Sie nähren sich von einer Wurzel (Sladyčka), welche auch Zauberkraft besitzt, und am Boden des Sees wächst. Am meisten befassen sich die wilden Frauen mit steten und verwechseln neugeborner Kinder. Man glaubt auch, daß sie Schuld daran sind, wenn ein Kind tot zur Welt kommt. Wenn ein solcher Fall vorkommt, so schneidet der Vater des Kindes einem neugeborenen Kalbe den Kopf ab, stellt sich mit diesem auf eine Brücke, und wirft den Kalbskopf über den seinen hinweg in das Wasser, und eilt dann ohne sich umzusehen nach Hause. Die Kinder, welche von den wilden Frauen umgetauscht werden, sind sehr hässlich, und schreien den ganzen Tag hindurch. Um sich solcher Kinder zu entledigen, muß man im Besitze der Sladyčka sein. Man bindet nämlich dem Kinde mit dieser Wurzel Hände und Füße zusammen, streicht es mit Ruthen 1) und spricht: „Nimm dir das deine und bring mir das meine“. Von dem heftigen schreien des Kindes wird die Mutter desselben gerührt und sie bringt das gestolene Kind zurück.
1)Vgl. Kuhn, nordd. Sag. Nr. 36. Grimm, deutsche Sag. Nr. 87.
Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 247f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, April 2005.