11. [Die Wohnung des Wassermanns]
Einst lebte in Moldautein eine Taglöhnerin, welche in der drückendsten
Armut sich befand, da sie nicht im Stande war, sich selbst und ihre zahlreichen
Kinder zu ernähren. Eines Abends verließ die älteste Tochter,
von Hunger getrieben, die Wohnung und eilte der Moldau zu. Hier irrte
sie nun an dem Ufer des Flusses weinend umher. Ihr wehklagen weckte den
Wassermann aus seinem Schlafe, denn es war gerade Freitag, an welchem
der Eingang in sein unterirdisches Reich offen bleibt, und daher konnte
er das schluchzen vernehmen. Hurtig stund das Männchen auf und eilte
zur Öffnung. Da erblickte es das Mädchen, welches eben im Begriffe
war, in die Tiefe sich zu stürzen und so dem Leben ein Ende zu machen.
Der Wassermann erhob sich flugs in die Höhe, fieng das Mädchen
auf und trug es in seine Wohnung, Dort bewirtete er dasselbe mit kostbaren
Speisen und Getränken. Nachdem sich die arme erfrischt hatte, sagte
der Geist zu ihr, dass sie von nun an bei ihm bleiben und er für
sie und die ihrigen Sorge tragen werde. Dafür aber muste das Mädchen
seine Dienerin sein.
Im Palaste dieses Wasserbeherrschers befindet sich ein geräumiges
Zimmer, dessen Mitte ein großer Kachelofen einnimmt, mit sehr vielen
Rändern versehen. An den Vorsprüngen stehn eine Menge von Töpfchen,
die mit Wasser gefüllt und zugedeckt sind. In diesen irdenen Gefäßen
hält der grausame Geist die Seelen der ertrunkenen gefangen. Dieses
Zimmer sollte von dem Mädchen besonders rein gehalten werden; ferner
muste es beständig in dem Ofen Feuer unterhalten; auch muste es den
Palast jeden Tag rein auskehren. Dafür erhielt das Mädchen den
Auskehrmist, welcher jedoch zu lauter Gold wurde. Der Wassermann hatte
dem Mädchen streng verboten, ja nicht den Deckel eines Topfes aufzuheben
und setzte mit drohender Miene hinzu: Bist du so neugierig und schaust
hinein, so wirst du auf ewig unglücklich.
Lange Zeit blieb dieß Gebot dem Mädchen heilig. Eines Tages,
als es gerade in dem genannten Zimmer beschäftigt war, vernahm es
aus einem der Geschirre ein jammern und winseln. Nach langem zögern
entschloß sie sich, hob den Deckel auf und siehe da, sie befreite
die Seele ihres Bruders von der Qual und aus der Gefangenschaft. Jetzt
wüste das Mädchen, was es für eine Bewandnis mit den Gefäßen
hatte, und zu welchem Zwecke sie da in so großer Menge um den Ofen
gestellt waren.
Als der Wassermann die Töpfe untersuchte und fand, daß eine
Seele abhanden gekommen, rief er das Mädchen gleich in die Stube.
Dieses erschien, am ganzen Leibe zitternd. Vor Schrecken bekannte sie
ihre Schuld und bat kniend um Vergebung. Der Geist verzieh ihr, indem
er sprach: Nimm dich in Acht, du neugierige, wenn solches nur noch einmal
geschieht, so wirst du es mit deinem Leben büßen.
Viele, viele Jahre hatte das Mädchen hier im Dienste gestanden, ohne
nur ein Verlangen zu haben wieder nach Hause zurückzukehren, aber
endlich hatte sie eine mächtige Sehnsucht nach der Heimat, und sann
auf Mittel, um zu entfliehen. An einem Freitage, da gerade der Wassermann
schlief, packte sie alle ihre Sachen zusammen, so wie auch den goldenen
Kehrmist und machte sich reisefertig. Sie beschloß aber vor ihrer
Flucht die armen Seelen noch zu erlösen. Unerschrocken hob sie den
Deckel eines jeden Topfes auf, und die freigewordenen Seelen flogen von
dannen, indem sie sprachen: Vergelte es dir Gott! Jetzt verließ
auch sie den Palast und eilte so schnell als möglich fort. Lange
irrte sie in dieser untern Welt herum, ohne den Ausweg zu finden. Schon
hörte sie in der Ferne das fluchen und schelten des erzürnten
Wassermannes, der bereits erwacht war und die fliehende verfolgte, als
sie die Öffnung vor sich sah. Hurtig sprang sie durch dieselbe und
befand sich nun glücklich an jenem Ufer, auf welchem sie vor Jahren
in Elend und Verzweiflung gewandelt. Die Mutter des Mädchens war
schon tot. Einige Geschwister fand es noch am Leben. Alle lebten nun beisammen
im besten Wohlsein von dem Reichtume, welchen die Schwester mitgebracht
hatte.
Quelle:
Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken,
Wien 1859. S. 178ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.