20. [Die wilde Füa]

Eigentümlich ist die mythische Vorstellung des Bergvolkes in Tirol. Ich habe noch nachträglich (nach dem erscheinen meiner "Alpensagen") eine Mittheilung aus Aineth bekommen, das in dem wenig besuchten Islthale [sic] (unweit Lienz) liegt. Dort hat man von der "wilden Füa" folgende Vorstellung:

Ein Schock böser Geister geht immer in der Welt herum; es ist kein Ort, an den sie nicht hingelangen, in bewohnte Gegenden sowie in unbewohnte. Mit der Schnelligkeit und dem brausen des Windesfahren sie über Berge hinauf bis auf die höchsten Gipfel und ebenso wieder herunter in die Tiefe der Thäler. Sie dürfen alles verwünschte, verfluchte oder überhaupt nichtgesegnete mit sich nehmen, und führen es so lange mit sich, bis es wieder erlöst wird. Daher haben sie auch alles erdenkliche bei sich, als: Dreschflegel, Pflüge, Sensen, Schmiedehämmer, Mühlsteine, Webstühle, Tische und Bänke, überhaupt die verschiedensten Geräthschaften, alle musikalischen Instrumente, als: Geigen, Harfen, Hörner, Glocken, Flöten, Schwögl und Hackbrett. Alle Instrumente geben ohne Unterlaß ihren Ton von sich, aber ohne Harmonie und Melodie, während ebenso verwirrt und schauerlich das Geklapper der Mühlen, das dreschen, hämmern, schneiden und hacken dazwischen tönt. Auch alle Arten von zahmen und wilden Thieren sind dabei vertreten. Man hört das brüllen der Bären, das Geheul der Wölfe; Hunde bellen, Katzen jammern, Schafe blöcken wehmüthig, Pferde wiehern, Hähne krähen und Vögel zwitschern und singen auf die mannigfaltigste Weise. Allein nicht nur Thiere und Geräthe aller Art führen sie mit sich, auch Menschen wiederfährt dieses traurige Schicksal. Man vernimmt trotz des grösten Wirrwarrs doch ganz deutlich, wie einige weinen und heulen, andere lachen, wieder andere sind im Wortstreite begriffen, fluchen und schelten, noch andere singen und jauchzen, und zu allem dem werden sie von den bösen Geistern angetrieben. Das brausen und pfeifen der Stürme, das tosen der Wildbäche und Wasserfälle, das abstürzen der Lavinen und das krachen fallender Bäume steigert den Lärm und das Getöse auf's höchste, und dieses alles zusammen heißt "die wilde Füa". Man vernimmt sie gewöhnlich zur Weihnachtzeit. Über Menschen hat sie nur dann Macht, wenn sie böses gethan haben, in böser Absicht bei Nacht auf dem Wege sind, oder wenn sie nicht gesegnet sind. Letzteres gilt auch für Thiere und Geräthe; daher das räuchern und besprengen aller Dinge zur Weihnachtzeit.

Begegnet man ihr zufällig auf einem ordentlichen Wege, so hat man sich an der rechten Seite des Weges auf die zurückgelassene Spur des Wagenrades zu legen, das Gesicht gegen die Erde und den Kopf gegen die daherkommende wilde Füa gekehrt, und sie geht schadlos darüber hinweg.

Gegenüber meinen Geburtsorte Aineth (Iselthal, Kreis Brixen) - so erzählt der Mittheiler - ist ein großer Urwald, der den ganzen steilen Abhang eines Berges einnimmt; er heißt der Oberlienzner Wald. In diesem befand sich vor nicht gar langer Zeit ein Bauer, der mit holzschlagen beschäftigt war. Es war Abend und schon sehr dunkel, als er sich auf dem Heimwege befand, da kam plötzlich die wilde Füa über eine Riese herunter, und nahe an ihm vorbei. Er sah, wie zuletzt ein kleines Kind in Windeln nachkugelte. Der Bauer sah dem Kinde wehmütig nach und sagte laut vor sich hin: "O Bitzele, Bätzele hintennoch". Kaum hatte er aber das gesagt, so stand ein Knäblein vor ihm in weißem Hemdchen, und sagte: Ich danke dir, daß du mir einen Namen gegeben hast, denn als ich geboren wurde, habe ich nur die Wachttaufe 1) (Nothtaufe) [Nottaufe] empfangen, und man hat vergessen mir einen Namen zu geben, darum muste ich mit der wilden Füa, so lange, bis ich einen Namen bekommen habe, und nun bin ich erlöst.

Das Volk verbindet mit dem Namen Füa drei Begriffe. Erstens bezeichnet es damit die auf einem Wagen fortzuschaffende Last; zweitens ein muthwilliges oder auch böswilliges Geräusch, ein Getöse, einen zwecklosen Wirrwarr, ein buntes durcheinander, welches sich durch nie ruhende Bewegungen und Laute bemerkbar macht; drittens gibt das Volk diesen Namen auch einem Frauenzimmer, welches in einer Aufregung von Zorn und Rache wie wahnsinnig sich gebärdet, mit zerrauften Haaren und zerrissenen Kleidern herumläuft, jeden schilt, der ihm in den Weg kommt, und sich nicht besänftigen läßt.
Im eigentlichen Pusterthale sagt man Fuire statt Füa.2)

1) Man sagt dort: "das Kind ist wachtgetauft,"
2) Über Fuer, das ich in der Schweiz im Sinne von Lärm, Unfug gehört habe, s. Schmeller, bair. Wörterb. 1, 556.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 43ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.