22. [Der hagere Reiter]
Dem Prior zu Heil. Kreuz (Nied. Österr.) erzählte eine Frau
folgendes:
Ich mache oft an Nachmittagen eine Spazierfahrt nach Alland. Da nehme
ich eine Jause ein und kehre dann gegen Abend wieder zurück nach
Hause. Ich gehe bei dieser Gelegenheit mitunter eine Strecke zu Fuß,
besonders beim Engelkreuz vorüber. Bei diesem Kreuze hörte ich
schon öfter, wenn ich vorüber gieng, im Walde ein singen, dann
wieder ein winseln, und darunter vernahm ich eine Stimme: "Ich bitte
für den armen Sänger!" Als ich heute abends im Mondlichte
wieder mit meinen beiden Kindern vorbei gieng, hörte ich dasselbe,
und meine Kinder hörten es auch. Plötzlich vernahmen wir im
Walde Pferdegetrappe, und ein Reiter kam zum Vorschein. Derselbe war von
hagerer Gestalt, hatte einen Mantel um und auf der Brust ein Kreuz, welches
aber schon etwas verwischt war, wie ein vom Alter schon abgetragenes.
Der Reiter blieb vor mir stehen und sagte: "Ich bitte für den
armen Sänger!" Da fasste ich mir Muth und fragte: "Ja,
was soll ich denn?" Er antwortete: "Beten für den Großmeister
und die zwei Brüder!" Dann kehrte er sich um, ritt wieder waldeinwärts,
und verschwand endlich im Walde.
Quelle: Mythen und Bräuche
des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 46f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.