26. [Der kopflose Einäugige]

Eine Stunde von dem Marktfleckchen Forbes im südlichen Böhmen liegt ein Meierhof mit Namen Trocnov.

Die Bewohner der Umgegend erzählen sich von einem kopflosen Manne, der sich in den Wäldern bei Trocnov aufhalte. Derselbe hat ein großes Auge auf der Brust und ist ganz weiß gekleidet. Er kommt nachts aus dem Walde in die Nähe der genannten Meierei, trägt einen Grenzstein in den Händen und ruft mit entsetzlicher Stimme: "Wohin soll ich diesen Stein setzen?" Erhält er auf seine Frage keine Antwort, so begibt er sich wieder zurück in das Gehölz., Gibt man ihm aber zur Antwort: "Lege ihn dorthin, wo du ihn genommen hast", so wird er dadurch gereizt, und läuft demselben nach. Glücklicherweise hat er noch niemanden ertappt, obgleich die Knechte ihn oft' zum besten halten.

An einem Abende gieng der Schaffner dieses Meierhofes mit allen seinen Knechten und Dreschern aus, um in dem nahen Bache bei Licht Krebse zu fangen. Als nun alle beschäftigt waren, da fieng ihr Hund an zu winseln, und kroch dem Schaffner zu Füßen. Dieser stand auf und erblickte zu seinem Schrecken zehn Schritte vor ihnen den kopflosen, der ihrem Geschäfte stillschweigend zuschaute. Ganz erschrocken durch den Ruf "kopfloser" sprangen alle aus dem Bache, ließen ihren Fang zurück, und suchten diesem unheilvollen Gaste zu entkommen.

Als einst drei Männer von Forbes von einem Besuche aus Lagau zurückkehrten, verspäteten sie sich. Sie kamen um Mitternacht in die Wälder bei Trocnov, und als sie durch ein Dickicht giengen, hörten sie ein Geräusch in ihrer Nähe. Sie verhielten sich jedoch ruhig und lauschten ängstlich. Da sahen sie wie der kopftose aus dem einen in das andere Dickicht über den Weg schnellte. Doch setzten sie ihren Weg fort, und einer fragte, den andern, ob er auch den kopflosen gesehen habe.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 52f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.