40. [Die Zwerge bei Raase]
In den südlichen Ausläufern des Sudetengebirges befindet sich
bei dem Dorfe Raase (in österr. Schlesien) eine 11 bis 12 Schuh breite
und 3 bis 4 Schuh* hohe Höhle, in
deren Hintergrunde zwei fortlaufende Gänge noch deutlich zu bemerken
sind. Von jener Höhle geht die Sage, daß sie vor langer langer
Zeit einem winzig kleinen Völkchen, den Zwergen, zum Aufenthalte
gedient habe.
Es hütete einst ein Mädchen einsam und allein ihrer Eltern einzige
Habe, eine Kuh, an den grasreichen Bergabhängen jener Gegend, und
durch Zufall, was sonst nie geschah, hatte sie ihre braune aus dem Auge
verloren. Ängstlich rennt sie hin und wieder, durchläuft die
ganze Gegend, und nirgend will sich die verirrte Kuh zeigen. Der Tag naht
schon seinem Ende, weinend machte sie nochmals die Runde und gelangt an
den gefürchteten Ort wo die Zwerge Hausen. Plötzlich steht ein
graues Männchen vor ihr, fragt sie warum sie weine, und heißt
sie ihm folgen. Zitternd geht sie ihrem kleinen Führer nach und sie
betreten ein hellerleuchtetes Gemach, worin unzähliche kleine Gestalten
ihr Wesen treiben. Beim Anblick des seltsamen Gastes drängen sie
sich neugierig heran, betasten und zupfen das Mädchen, so daß
es ihm angst wurde. Ihr Begleiter spricht ihr Muth zu, und als er dem
Oberhaupte Kunde gebracht, sucht man sie anstatt zu necken auf alle mögliche
Weise zu erheitern. Man bringt ihr tausenderlei Sachen, die Zwerge hüpfen
um sie herum, so daß sie nicht merkt, wie ein köstliches Mal
bereitet wird. Jauchzend eilt das Völkchen zur Tafel hin, und zieht
die Fremde mit. Doch kaum hat sie den Sitz eingenommen, so merkt sie neben
sich ihren Führer, der ihr in's Ohr raunt: "Mädchen! nimm,
doch nimmer iss, daheim der Eltern nicht vergiss!" Sie langte zu,
doch nicht ein Bissen kam über ihre Lippen, und was sie nahm, barg
sie sicher in ihrer Schürze. Als das Mahl beendet war, überfiel
ein Schlaf ihre Augen, und als sie erwachte, däuchte ihr dieß
alles nur ein Traum; denn sie lag im frischen Grase jener Gegend, wo sie
mit der braunen sich aufgehalten hatte. Die braune weidete wohlgemuth
neben ihr. Sie sprang auf, warf den Inhalt der Schürze bei Seite,
und lief schnurstracks nach Hause um zu sehen. was Vater und Mutter machten,
und ob sie selbst nur geschlafen habe. Mit offenen Armen eilt man ihr
entgegen, und sagt ihr, schon drei Tage sei sie samt der braunen nicht
zu finden gewesen. Darauf eilen sie die braune heim zu holen, und schon
von ferne sehen sie im Grase etwas funkeln. Sie betrachten es näher
und siehe da, es ist lauter Gold.
* Die Maßeinheit Schuh entspricht dem Längenmaß
Fuß und beträgt ca. 30 cm.
Quelle:
Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken,
Wien 1859. S. 221f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.