DER NÄCHTLICHE BESUCH
I.
In einem Heidedorfe starb ein Mann und hinterließ seine Frau mit
sechs Kindern. In der Nacht nach der Beerdigung erschien der Verstorbene
in der Wohnstube, setzte sich in seiner gewohnten Ecke beim Fenster nieder
und blickte die wachende Witwe traurig an. Die Frau fand nicht den Mut,
ihn anzusprechen. Der Geist verschwand asbald und kam nie wieder.
II.
Vor Jahrzehnten erzählte ein Landwirt folgendes Erlebnis: Bei der
Geburt seines einzigen Kindes starb die Mutter, das Kind blieb am Leben.
In der Nacht nach dem Begräbnis lag der Mann wach im Bette, neben
ihm schlief das Kind in der Wiege. Um Mitternacht sah er seine verstorbene
Frau auf unerklärliche Weise in die Stube treten. Sie ging zur Wiege,
beugte sich über das Kind und stillte es. Nach einer Weile verschwand
sie. Der unheimliche Besuch wiederholte sich einige Nächte. Der Mann
fürchtete sich, die Verstorbene anzusprechen. Das Kind soll nicht
gestorben sein.
Quelle: Sagen aus dem Burgenland, Herausgegeben
von Anton Mailly, Adolf Pfarr und Ernst Löger, Wien und Leipzig 1931,
Nr. 1, Seite 16