DER NEUSIEDLER SEE

Die Niederung, in der sich heute der Neusiedler See ausbreitet, war einst ein fruchtbarer Talboden, wo glückliche Menschen in mehreren Dörfern wohnten. Einmal verirrte sich der Burgherr von Forchtenstein auf der Jagd in dieser Gegend und kam zuletzt in das Dorf Mädchenthal. Hier sah er Maria, das schönste Mädchen des Dorfes, und verliebte sich in das liebliche Mädchen, das seiner Neigung Gehör schenkte, da sie ihn für einen einfachen Jäger hielt. Samuel, der Diener des Schloßherrn, verriet dies aber der Gattin des Fürsten, die nun das Mädchen zu beseitigen dachte.

Als der Fürst bald darauf in den Krieg zog, ritt die Burgherrrin mit Samuel und einem kleinen Gefolge nach Mädchenthal und ließ Maria sowie ihre Mutter ergreifen und ins Gefängnis werfen. Obwohl die beiden Frauen ihre Unschuld beteuerten und schworen, den Fürsten für einen Jäger gehalten zu haben, gab sie ihnen die Freiheit nicht wieder; ja, als einige von der Burgfrau bestochene Bauern belastende Aussagen machten, sprach die Fürstin von Forchtenstein das Todesurteil über beide aus. Schicksalsergeben erwartete Marie ihr Ende; nicht so ihre Mutter. Als sie zum Tode geführt wurde, stieß sie einen gräßlichen Fluch über die grausame, rachgierige Burgherrin und über die bösen Menschen aus, die falsches Zeugnis wider sie abgelegt und ihren Tod verschuldet hatten. "Noch bevor die Sonne zum zweitenmal untergeht, soll die gerechte Strafe sie treffen!" rief sie mit gellender Stimme, dann stieß man sie mit ihrer Tochter in den großen Weiher des Dorfes, wo beide ertranken.

Am folgenden Morgen war das Wasser des Weihers beträchtlich gestiegen, an seiner Oberfläche aber schwammen mit friedlichen Gesichtern und gekreuzten Händen die Leichen der beiden Frauen. Die geängstigten Bauern glaubten an ein Wunder und bestatteten reuevoll die unschuldigen Opfer der Schloßherrin. Doch das Wasser hörte nicht auf zu steigen. Es wuchs und wuchs und vertrieb schon am nächsten Tag die verzweifelten Bauern aus ihren Häusern. Der Weiher wurde zum See, und dieser dehnte sich immer weiter aus, bis er endlich seinen heutigen Umfang erreichte.

Die aus Mädchenthal geflüchteten Bewohner siedelten sich am nördlichen Ufer des Sees an und nannten ihren neuen Wohnort Neusiedl.

Als man der Fürstin von Forchtenstein die traurige Nachricht von der großen Überschwemmung und vom Untergang des Dorfes Mädchenthal und anderer Orte, die der See überflutet hatte, überbrachte, da überfielen Reue und Verzweiflung die stolze Frau. Gewissensbisse quälten sie, bis der Wahnsinn ihre Sinne umnachtete. Samuel jedoch, der Verräter, empfand keine Reue über seine Tat. Ja, er vergnügte sich sogar eines Tages, mit dem Kahn den neuen See zu befahren. Hier aber sollte ihn seine Strafe ereilen. Ein Unwetter brach los, der Sturmwind wühlte den See bis zum Grund auf und brachte das Boot zum Kentern; so fand Samuel in den tobenden Wellen den Tod.

Nach einiger Zeit kehrte auch der Fürst von Forchtenstein nach Beendigung des Krieges wieder in seine Heimat zurück. Als er vom Tod Marias erfuhr, da war er untröstlich und ließ zum ewigen Gedächtnis an sie in der Nähe des Sees das Kloster Frauenkirchen erbauen. Dann pilgerte er nach Rom, um Vergebung seiner Sünden zu erflehen.

Allmählich verschwanden die Baumwipfeln und Kirchturmspitzen, die noch eine Zeitlang aus dem Wasser ragten, und nichts erinnerte mehr an die Orte, die einst in dem Talboden lagen, wo sich heute die Weite des Sees erstreckt.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich, o. A., o. J., Seite 222