Das Halslöserätsel

Ein armer Familienvater, der für sieben Kinder zu sorgen hatte, übertrat einmal die Grenzen der Anständigkeit und beging einen großen Diebstahl. Dabei wurde er aber erwischt und mußte vors Gericht. Weil zu jener Zeit die Gesetze sehr streng waren, so hatte er nichts Gutes zu erhoffen. Und wirklich, er wurde zum Tode am Galgen verurteilt. Da er jedoch aus Not gehandelt hatte, gaben ihm die Richter eine Möglichkeit, sich von diesem Tode zu erretten und sogar seine Freiheit wiederzuerlangen: Er müßte den Gerichtsherren ein Rätsel aufgeben, das zu lösen sie nicht imstande wären.

Da ging nun der arme Verurteilte umher und zerbrach sich den Kopf, um solch ein Rätsel zu finden. Doch vergebens, je mehr er nachdachte, desto weniger fiel ihm ein. Am Vorabend des Tages, an dem er das Rätsel kundtun sollte, bat er nun seinen Gefangenenwärter, er möge ihn auf den Friedhof gehen lassen, er wolle sich den Galgen, an den er gehängt würde, ansehen. Diese Bitte wurde ihm gewährt.

Also wanderte er zum Friedhof hinaus. Er war eben durch das Tor eingetreten, als knapp vor ihm eine Meise aufflog. Doch beachtete er diese nicht, weil er nur auf den grauen Galgen hinsah. Trauriger, als er gekommen war, verließ er wieder den Friedhof. Da flog wieder die Meise knapp vor ihm auf. Nun sah er aber doch genauer hin und entdeckte am Boden etwas Sonderbares. Er kniete nieder, betrachtete dies seltsame Ding, und sieh da - es fiel ihm das erlösende Rätsel ein. Freude erfüllt dankte er Gott, daß er ihn trotz seiner Schlechtigkeit dennoch die rettende Frage finden ließ und kehrte frohen Herzens wieder in seine Zelle zurück.

Am nächsten Tag wurde er geholt und abermals vor seine Richter geführt. Wieder wurde ihm das Urteil verlesen und dann die Frage an ihn gerichtet, ob er ein Rätsel wisse, das zu lösen die Richter nicht imstande wären. Hierauf trat er vor und sagte, ja, er wisse eines. Als die Richter ihn auffordeten, selbes zu geben, stellte er folgendes Rätsel:

"Hinein gang ich,
heraus kam ich:
sieben Lebendige aus einem Toten,
der achte macht den neunten frei.
Rät's wühl, meine Herren,
was dies wohl sei!"

Die Richter waren verblüfft und fingen zu raten an. Sie rieten hin, sie rieten her, doch keiner fand des Rätsels Lösung. Stunde um Stunde verrann. Schon rückte die Stunde an, die unseren armen Vater auf den Galgen bringen sollte. Doch die Richter fanden des Rätsels Lösung nicht. Sie mußten ihn freisprechen. Als er nun um die Lösung gefragt wurde, antwortete er, nachdem er von seinem Friedhofsbesuch erzählt hatte, folgendes:

"Als ich mich an der Stelle niederkniete, bemerkte ich einen Totenkopf, in dessen leerem Inneren sich eine Meise ein Nest gebaut hatte. In diesem Nest regten sich bereits sieben Junge. Da dachte ich mir: Schau her, sieben Lebendige aus einem Toten, womit ich den Totenschädel meinte. Die Lebendigen sind die jungen Meisen. Der Achte, die Meisenmutter, macht den neunten, der ich ja war, weil ich zum Tode verurteilt war, frei. Ist das nicht das schönste und sonderbarste Rätsel für meine Rettung?"

Da waren die Richter alle sehr erstaunt. Der arme, nun aber überglückliche Familienvater konnte geraden Wegs zu seinen Lieben heimeilen.



Quelle: Rupert Löschenauer, Was unsere Leute erzählen, in: Volk und heimat V (1952), Nr. 8, S. 8, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 211f.