Hexe stiehlt Getreide

An einem Sommertag wurde in der Scheuer eines Hauses in Au am Leithaberg Getreide gebunden. Beim Mittagläuten begab sich der Bauer mit seinem Sohne zum Essen in die Stube, wobei der Sohn vergaß, wie es üblich ist, über dem Getreidehaufen das Kreuzzeichen zu machen, um ihn vor bösen Geistern zu schützen. Als der Bursche nach der Mahlzeit in die Scheuer zurückkehrte, gewahrte er zu seiner Überraschung, daß der Getreidehaufen immer kleiner und kleiner wurde. Er wußte sofort, daß hier eine Hexe ihr Spiel treibe und unsichtbar die Frucht stehle. Rasch entschlossen warf er sein Taschenmesser in den Haufen, der urplötzlich dreimal so groß wurde, als er ursprünglich gewesen war. Der Bursche hatte nämlich mit dem Messer das Netz der Hexe durchschnitten, aus dem nun auch das Getreide rann, das sie anderen Bauern gestohlen hatte.

Jahre waren vergangen. Der Sohn hatte das elterliche Anwesen übernommen. Einmal fuhr er nach Donnerskirchen, um dort bei einer Bäuerin Ochsen zu kaufen. Nach Abschluß des Geschäftes lud ihn die Bäuerin zum üblichen Leihkauftrunk ein. Beim Brotschneiden fiel dem Bauern das Messer der Hausfrau auf. Er erkannte sein Messer, das er vor langen Jahren ins Getreide geworfen hatte, stand sofort auf, machte den Ochsenhandel rückgängig und verließ schleunigst Donnerskirchen. Die ertappte Hexe schrie ihm auf der Straße nach: "Erzähl nichts, sonst kost's dich das Leben!" Um sie war es aber trotzdem geschehen, sie starb kurze Zeit darauf.


Quelle: Adolf Parr und Ernst Löger, Sagen aus dem Burgenland, Anton Mailly Wien/Leipzig 1931, Nr. 47, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 34f.