Der Kindesraub
An einem heißen Sommertag des Jahres 1659 ließ der Schloßherr von Nikitsch, Baron Georgius Rechey, durch seine Untertanen auf den herrschaftlichen Feldern die Erntearbeiten verrichten. Er selbst und seine Frau hatten sich wegen der drückenden Hitze in ihre Gemächer zurückgezogen. Der achtjährige Sohn, der wie sein Vater auf den Namen Georg getauft war, spielte in dem ausgedehnten Park, der das Schloß umgab.
Sommerliche Schwüle lastete über der Landschaft. Knechte und Mägde werkten schweißtriefend auf dem großen Feld neben dem Schloßweg. Plötzlich hielten sie inne und blickten neugierig zur Straße, auf der eine vornehme, mit vier Rappen bespannte, geschlossene schwarze Kutsche in Richtung Schloß dahinrollte.
Die Arbeiter verneigten sich tief vor dem flott fahrenden Wagen, da sie darin einen hohen Besuch ihrer Herrschaft vermuteten. Ein paar Mägde schüttelten wohl die Köpfe. Das düstere Gespann bedrückte sie irgendwie, aber sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Schaffer mahnten zur Weiterarbeit.
Doch kaum hatten sie sich wieder ihrer Tätigkeit zugewandt, kehrte die schwarze Kutsche in rasender Fahrt zurück. Sie hatten gerade soviel Zeit, sich zu verneigen, da war das düstere Gefährt auch schon vorbeigerast.
"Die haben es aber eilig gehabt", meinte einer der Arbeiter verwundert.
Im Schloß hatte man den geheimnisvollen Wagen nicht bemerkt.
Anscheinend war er nur bis in den Park gefahren, hatte dort gehalten
und war wieder umgekehrt. So jedenfalls erklärte man es sich später.
Zur Mittagszeit begab sich die Schloßherrin auf die Terrasse, um
den kleinen Georg zum Essen zu rufen. Doch er kam nicht. Das hatte er
noch nie getan. Er war immer folgsam gewesen.
Beunruhigt beauftragte sie die Dienerschaft, nach ihm zu suchen. Aber alles Suchen war vergebens. Georg war wie vom Erdboden verschluckt. Auch in der weiteren Umgebung des Schlosses war keine Spur von dem Knaben zu entdecken.
Vom Feld neben der Straße brachte man schließlich die Kunde von der schwarzen Kutsche zu den besorgten Eltern. Nun war die Aufregung groß.
"Er ist entführt worden!" stöhnte die Mutter.
"Zum Bettler will ich werden, wenn nur mein Kind wiederkehrt!" rief der Vater verzweifelt.
Knechte wurden nach allen Richtungen ausgesandt, um nach dem Vermißten zu fahnden. Reiter galoppierten in die Nachbarorte und fragten überall nach der geheimnisvollen schwarzen Kutsche, doch niemand hatte sie gesehen.
Der Schloßherr selbst nahm sein bestes Pferd und durchstreifte die Wälder der Umgebung. Hügelauf und hügelab führte ihn der Weg, aber alle Mühe war vergebens. Kutsche und Kind blieben verschollen.
Noch im gleichen Jahr ließen die gramgebeugten Eltern an den vier
Ortseingängen von Nikitsch Steinsäulen als Zeichen ihres Rufens
und Flehens um den geliebten Sohn errichten. Er kehrte jedoch nie wieder.
Quelle: Burgenland - Sagen und Legenden, Friedrich Schattauer, Waidhofen, 1980, S. 85ff, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 185ff.