Der Kümmerlingstein
Kümmerlingstein, Kleinhöflein, Burgenland
© Harald Hartmann, August 2006
Der Kümmerlingstein ist ein etwa mannshoher Felsen, der in der Nähe von Kleinhöflein steht. Seit alters her geht von ihm die Sage, daß er sich vor dem ersten Menschen, der am Morgen bei ihm vorübergeht, tief verneigt und so gleichsam seine Ehrfurcht vor dem Fleiß des frühen Wanderers kundgibt.
"Seppl", sagte ein Weinhauer zu seinem baumlangen, der Arbeit nicht sehr gewogenen Sohn, "Seppl, das eine möchte ich noch erleben, daß sich der Kümmerlingstein vor dir verbeugt."
Nun war der Seppl zwar gerade kein Frühaufsteher, aber es gelüstete ihn doch, der Mär vom Kümmerlingstein auf den Grund zu gehen und zu erfahren, ob an der Sache etwas Wahres sei.
Um sich nicht zu verspäten und richtig als erster auf dem Platz zu sein, nahm er eines Abends im Spätherbst eine dicke Wolldecke unter den Arm und begab sich in die Nähe des Steines. Dort wollte er, in die Decke gewickelt, geruhsam schlafen, bis ihn am Morgen die Schritte des ersten Weinhauers, der zur Arbeit ging, aus dem Schlaf wecken würden. Dann, dachte er, werde er rasch aufspringen und noch vor dem ändern als erster am Kümmerlingstein vorübergehen. Befriedigt über diesen Plan legte er sich zur Ruhe nieder und schlief bald ein.
Kurz nach Mitternacht war ihm, als höre er das Geräusch vorübergehender
Schritte, und ein helles Lachen, das an sein Ohr drang, ermunterte ihn
bald völlig. Als er sich rasch aufrichtete, sah er, wie ein Greis
mit blauem Schurz, der eine Butte auf dem Rücken trug, soeben am
Stein vorbeiging. Gleichzeitig bemerkte er bestürzt, wie der Stein
vor dem Greis eine tiefe Verbeugung machte. Verwundert schlich der Seppl
dem Greis nach, um zu erfahren, wer der unbekannte Alte sei, und was er
so bald nach Mitternacht in den Weinbergen treibe. Da gewahrte er, wie
der Alte mit den Händen segnend jeden Weinstock berührte, und
wußte nun, daß es der Leseähnl (dämonische Gestalt,
Ähnl = Großvater) war, der ihm beim Kümmerlingstein ein
Schnippchen geschlagen hatte.
Am Morgen aber zeigten sich die Beeren der Weintrauben, die tags vorher
noch unreif und sauer gewesen waren, prall und honigsüß und
verschafften dem Wein besten Ruf.
Kümmerlingstein, Kleinhöflein, Burgenland
© Harald Hartmann, August 2006
Quelle: Sagen aus Österreich, Hildegard Pezolt, Wien 1948 (2. Auflage Wien 1950), S. 78, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 239f.