Die Lichtgestalt
Es war ein Viertel auf elf Uhr abends, M. v. A., ihr Bruder L. und ich wollten in das Dorf gehen.
Wir sprachen nicht von Geistern, sondern machten Spaße und waren lustig.
Beim Betreten des Hofausgangstores blickte ich nach links gegen die Halle,
wo die große Steinstiege ist. Es war stockfinster; eben wollte ich
mich abwenden, als plötzlich das Stiegenhaus ganz hell wurde.
Im ersten Moment glaubte ich, L. hätte mit der Taschenlaterne hinaufgeleuchtet,
doch erkannte ich dann gleich, daß das Licht viel stärker sei,
so, als hätte man im Mittelteil der Stiege eine elektrische Beleuchtung
aufgedreht, das Licht war stark gelb und vollkommen ruhig.
Das Steingeländer des Mitteltraktes war beleuchtet und die Wand bis
hoch hinauf sehr hell. Nach einigen Sekunden entstand in diesem Lichte
eine Gestalt.
Ich glaubte, es sei ein Scherz, um mich zu schrecken. Bis dahin hatte ich ganz ruhig hingesehen, doch während ich die Gestalt betrachtete und sie ganz deutlich langsam von Stufe zu Stufe steigen sah, kam ganz plötzlich, wie von außen, eine Lähmung über mich und das furchtbare Gefühl, etwas Übernatürliches zu sehen; es war mir, als ob mein Denkvermögen auf einmal in die verkehrte Richtung arbeiten würde. Ich hatte nie an Geister geglaubt, in diesem Augenblick war es wie eine Offenbarung: Das gibt es!
Die Gestalt war nicht groß und machte den Eindruck eines jungen, schlanken, anmutigen Wesens; sie war deutlich und plastisch, aber doch duftiger und ihr Gang schwebender als bei einer wirklichen Person. Die ganze Gestalt war in einen feinen weißen Schleier gehüllt, ich sah keine weiteren Details.
Nirgends an der Gestalt oder Wand war ein Schatten, alles Licht in Licht, am leuchtendsten die Figur.
An der Wendung der Treppe war alles für einen Augenblick wie erloschen, dann kam es wieder, und ich sah die Gestalt den letzten Absatz hinaufsteigen, das Licht umgab sie, das Geländer war vollkommen sichtbar.
Am Ende der Treppe verschwand oder zerfloß die Erscheinung.
Ich hörte die ganze Zeit nicht das geringste Geräusch.
Das ist meine Bekanntschaft mit der Weißen Frau.
Die Geschwister hatten gar nichts gesehen.
Den nächsten Tag ging ich zur Stiege, um zu sehen, ob ein Pfeiler an der Biegung der Treppe die Erscheinung verdeckt hatte (ich konnte mich an die Details der Stiege nicht erinnern), es war dort nichts; dafür bemerkte ich, daß man von dem Punkte, wo ich abends stand, den letzten Teil der Treppe nur fragmentarisch sehen kann, eine große vom Plafond herabhängende Laterne und der Pfeiler des Stiegenaufganges sind vorgeschoben, trotzdem hatte ich die Gestalt und das Geländer ohne Hindernis gesehen. Diesen Blick hat man aber erst von der Mitte des ersten Stiegenabsatzes, und ich stand im Torgang.
Ferner hatte ich am Abend die Mittelwand vollkommen weiß und leer
gesehen, obwohl das Licht so stark war, daß ich die dort hängenden
Wappenschilder hätte deutlich erkennen müssen.
Quelle: Schloß Bernstein im Burgenland, W. Erwemweig, Bernstein 1927, S. 58f, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 115f.