Der Retter in der Not
Unter Führung des Sultans Soliman II. zog ein mächtiges Heer gegen Wien. Auch der Burg Güssing, in die noch im letzten Augenblick eine Anzahl erprobter kaiserlicher Krieger eingezogen war, drohte Gefahr.
Schneller als erwartet kamen die Türken herbei. Alle Versuche, die Festung im Sturm zu nehmen, scheiterten aber an der Tapferkeit der Verteidiger, und die Belagerer mußten sich darauf verlegen, die Eingeschlossenen auszuhungern. Plötzlich erkrankte jedoch der Befehlshaber und übergab den Befehl über die Burg einem besonders tapferen und klugen Mann namens Giesinger. Schon ging der Mundvorrat zur Neige, und seine Leute gerieten in eine schlimme Lage. Da entdeckte Giesinger in der Burg einen unterirdischen Gang. Dieser führte, wie es sich herausstellte, unter den Wäldern bei Krottendorf und Hasendorf zu einem Kloster, das auf einem kegelartigen Berge nächst dem heutigen Tobaj lag.
Damals lebte in jenem baufälligen Kloster ein Mönch, den nur selten jemand zu Gesicht bekam.
Giesinger betrat mit einigen Soldaten den finstern Gang und erreichte nach einer längeren, unheimlichen Wanderung den Ausgang, den eine schwere Eisentür versperrte. Sie hielten den Atem an und horchten. Da hörten sie Schritte und vernahmen ein leises Husten. Zaghaft klopften sie an. Der Mönch öffnete ihnen und fragte sie, wer sie seien und was sie hier wollten. Mit eindringlichen Worten schilderte Giesinger die traurige Lage der Burg, der rasche Hilfe nötig sei. Nach kurzer Überlegung sprach der Einsiedler:
"Geht nur ruhig heim! Ich will versuchen, eurer Not ein Ende zu machen. Kommt in drei Tagen wieder her!"
Am andern Morgen machte sich der fromme Mann auf den Weg. Er suchte solche Höfe und Dörfer auf, die von den Türken frei waren, erzählte den Leuten, wie schlimm es um die Burg stehe, und bat um Spenden von Lebensmitteln für die tapferen Verteidiger. Die Bauern erkannten die nahe Gefahr und halfen gerne; denn sie wußten, daß auch sie bedroht waren, sobald der Feind die Burg eingenommen hätte. In den folgenden Nächten brachten sie reichliche Gaben korbweise ins Kloster, die dann auf dem geheimen Weg in die Burg befördert wurden. So konnte also die Besatzung erfolgreich Widerstand leisten, und schließlich mußte der Türke mit Schimpf und Schande abziehen.
Der Name des tapferen Verteidigers der Burg lebte im Volke fort, und
der Ort Güssing soll seinen Namen dem braven Giesinger verdanken.
Quelle: Lesebuch für die burgenländischen Volksschulen, Adolf Parr, Teil II, Wien/Leipzig 1929, S. 221f, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 146f.