Die Totenmesse
Die alte Knipfer-Ahnl in Wiesen war eine fromme Frau. Tagtäglich
ging sie zur Messe, und öfter brachte sie sogar die Nacht in der
Kirche zu.
Einmal blieb sie aus Neugierde auch in der Nacht vor Allerseelen in der
Kirche. Nachdem sie ihre Gebete verrichtet hatte, schlief sie, von Müdigkeit
überwältigt, ein. Mitten in der Nacht erwachte sie plötzlich.
Erstaunt und beklommen gewahrte sie, daß auf dem Altar die Kerzen
brannten und ein Priester die Messe las. In den Bänken saßen
so viele Leute wie beim Sonntagsgottesdienst, aber es waren längst
Verstorbene, von denen sie noch einige gekannt hatte. Da wurde ihr angst
und bang. Sie ließ Gebetbuch und Rosenkranz in der Bank liegen und
floh mit geschlossenen Augen ins Freie. Und das war ihr Glück, denn
am nächsten Morgen fand sie ihr Gebetbuch und ihren Rosenkranz zerrissen
vor der Kirchentür liegen, Teile davon fand sie sogar im Friedhof.
Quelle: Sagen aus dem Rosaliengebirge, August Strobl, in: Heimatkundlicher Familienkalender, St. Polten 1949, S. 183f, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 85f.