Der beinerne Tisch

1. Oberhalb des freundlichen Ortes Hermagor, am Fuße des Guggenberges, der das Gailtal vom Gitschtal trennt, liegt die ganz verfallene Burg der Grafen zu Mallentein. Nur wenige Mauerreste geben kund, daß hier einst ein Rittergeschlecht gehaust hat. Die Stammburg ist verfallen; der Feind, eine Feuersbrunst und der Zahn der Zeit haben sie zerbröckelt. Nur in dem kleinen Kühwegerkirchlein sind noch einige Gemälde aus der Zeit der Mallenteiner erhalten.

Die Sage berichtet, daß die Besitzer der Burg sehr reich und hochmütig waren. Die letzte Burgfrau war ein eitles, hochmütiges Weib, nur von dem Wunsche beseelt, sich alles Schöne und Seltene anzueignen. Selbstsüchtig aufs äußerste, fand sie keine Zeit, sich um die Leiden ihrer Untertanen zu kümmern. Der sehnlichste Wunsch, den sie hegte, war der, auf einem beinernen Tisch zu essen.

Da sie überaus reich war, glaubte sie auch diesen Wunsch verwirklichen zu können. und in der Tat ging er in Erfüllung, doch in einer Weise, die sie nicht hatte vorausahnen können. Einst stand sie am Ufer der Gail. Ihr Blick streifte über das schöne Tal, das zu ihren Füßen lag. Stolz auf ihren Besitz, wußte sie in ihrem Hochmute nicht mehr, was sie tun sollte. Sie nahm einen kostbaren Ring vom Finger, warf ihn in die Fluten der Gail und rief: „So wenig wie dieser Ring noch einmal meine Hand zieren wird, werde ich arm werden." Hierauf kehrte sie in ihre Burg zurück. Doch siehe da, schon am nächsten Tag brachte ein Fischer einen großen Huchen, in dessen Magen man den Ring der Burgfrau fand. Als ihn die Magd ihr überbrachte, erschrak sie gewaltig und wurde blaß. Noch an demselben Tage überzog schwarzes Gewölk den Himmel und ein fürchterliches Unwetter brach los. Ein Blitz fuhr in das Schloß, zündete es an und äscherte es bis zum Grund ein. Die Burgbewohner retteten mit genauer Not ihr nacktes Leben, und vom gewaltigen Schloß blieb nichts übrig als ein rauchender Trümmerhaufen. Nun mußte die Burgfrau die Wankelmütigkeit alles Erdenglückes erfahren, denn ihr Wunsch, auf einem beinernen Tisch zu essen, ging in Erfüllung. Bettelnd zog sie von Haus zu Haus und lebte von milden Gaben gutherziger Leute. Ihre Mahlzeiten nahm sie vor fremden Hütten ein, wobei sie, die dargereichte Schüssel auf den Knien haltend, tatsächlich von einem „beinernen Tische" aß.

2. In der Nähe von Oberdrauburg erhebt sich am rechten Ufer der Dran das Flaschberger Schloß. Dort lebte eine stolze Gräfin, die vor Übermut nicht wußte, was sie tun sollte, um sich die Zeit zu vertreiben. In ihrer Launenhaftigkeit wünschte sie allzu gerne einmal von einem beinernen Tisch zu essen. Eines Tages warf sie einen Ring in die Drau und sprach dabei die vermessenen Worte: „So unmöglich es ist, diesen Ring je wieder zu finden, so wenig wird man mich von meinem Besitze bringen." Sie war nämlich sehr reich und besaß viele Güter. Als kaum einige Tage verstrichen waren, brachte der Schloßfischer einen Fisch, in dessen Bauch der Ring gefunden wurde. Die Gräfin war wie vom Schlage getroffen und blieb einige Tage halbtot liegen. Sie hatte die beste Hoffnung gehabt, den Ring nicht mehr zu sehen, aber das Schicksal wollte es anders. Was die Gräfin nun befürchtete, traf gar bald ein. Wilde Krieger brachen ein, überfielen auch das Schloß, plünderten es bis auf die Mauern aus und jagten die reiche Gräfin von dannen. So verlor sie Hab und Gut und zog als Bettlerin von Haus zu Haus. Ihre eigenen Knie waren der beinerne Tisch, auf die sie das dargebrachte Essen setzte. An der Stelle der Burg wachsen jetzt mächtige Fichten- und Laubbäume und nebenan führen mehrere Wege ins Hochgebirge.

In slowenischer Fassung kommt die Sage vom beinernen Tisch auch in Unterkärnten vor.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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