Der stumme Büßer zu Ossiach
Ungefähr im Jahre 1082 kam Boleslaus, König von Polen, nach Ossiach und starb, nachdem er hier acht Jahre Buße getan hatte, im Jahre 1090 unter der Regierung des Abtes Teucho. Nach glänzenden Siegen, welche er über die Russen, Böhmen und Ungarn erfochten und wodurch er die Grenzen Polens erweitert und befestigt hatte, brachte ihn menschliche Gebrechlichkeit und sein Glaube an die Beständigkeit des Glückes zu Fall. Nach Polen zurückgekehrt, bestrafte er die Truppen, welche vorzeitig heimgekehrt waren, mit empörender Grausamkeit, trieb neue, unerschwingliche Steuern ein und machte sich dadurch bei allen Untertanen verhaßt. Da ihm der wackere Bischof von Krakau, Stanislaus, hierüber freimütige Vorwürfe machte und ihn endlich sogar in den Bann tat, schwor Boleslaus ihm Rache und tötete ihn mit eigener Hand in der Kirche des heiligen Michael zu Krakau vor dem Altar, da er eben die Messe las. Dies geschah am 8. Mai 1077.
Der Mord an diesem frommen und beliebten Mann empörte die Nation noch mehr, und da der König nun auch vom Papste Gregor VII. in den Bann getan wurde, so verschworen sich die Vornehmsten des Reiches gegen ihn und bewogen ihn dadurch zur Flucht aus seinem Lande. Er floh nach Ungarn zum König Ladislaus. Allein unbekannte Gründe, vielleicht die fortgesetzte Verfolgung des Papstes, vielleicht die strafende Stimme seines Gewissens, bewogen ihn, Ungarn heimlich zu verlassen und irgendwo in der Welt eine Verborgenheit aufzusuchen, wo er seine Sünden abbüßen, sich mit seinem Gewissen aussöhnen und einen ruhigen Tod finden könne. Die Sage berichtet, ebenderselbe Papst habe ihm die Buße auferlegt, so weit zu gehen, bis er an einen Fluß komme, in dem das Wasser aufwärts fließe. Nach Menschengedenken schien dem Papste solches unmöglich. Nach langer Wanderung kam Boleslaus an den Seebach bei Villach. Beim Anblicke dieses Flüßchens schlug das Herz des unglücklichen Königs vor Freude höher; es floß „aufwärts" und kündete ihm somit die Erlösung vom Banne. (In Kärnten bezeichnet man nämlich jede Richtung im entgegengesetzten Sinne der Drauströmung als aufwärts.) Dieses Flüßchen kommt aus dem Ossiachersee, an dessen Südufer das gleichnamige Stift liegt. Hier fand er, was er suchte.
Der Mann, welchem vormals ein großes Reich nicht genügt hatte, brachte hier acht Jahre zu, unerkannt und stumm; er stellte sich, als wäre er sprachlos und verrichtete die geringsten Küchendienste und Tagwerksarbeiten. Seine Demut in diesem neuen Stande, seine ausharrende Geduld, seine Unterwürfigkeit gegen die Befehle seiner Vorgesetzten, die unerschütterliche Festigkeit in seiner angenommenen Stummheit, alles Lautwerden der Gefühle zu erdrücken, sind unzweideutige Beweise eines Mannes, der seiner selbst durch harte Prüfung wieder mächtig geworden.
In seinem besten Alter warf ihn nun eine Krankheit aufs Bett und bald fühlte er, daß sein letzter Augenblick herannahe. Diese Gewißheit löste seine Zunge. Er bat um einen Beichtvater, und als dieser erschien und über den plötzlich sprechenden Stummen in Erstaunen geriet, bekannte Boleslaus, wer er gewesen, warum er hierher gekommen und welche Verbrechen er begangen hatte. Er empfing den Leib des Herrn und übergab den königlichen Siegelring mit geheimen Briefen zur Bestätigung seiner Angaben dem Abte des Klosters und schloß seine Augen für immer unter dem Gebete der Klosterbrüder, welche sich um sein Krankenlager gesammelt hatten. Der Körper des Verstorbenen wurde auf geziemende Weise in der Kirche begraben, und man sieht noch heute von außen auf der Nordwestmauer der Kirche seinen Grabstein, auf welchem ein gesatteltes Pferd mit der Umschrift steht: Boleslaus, Rex Poloniae, Occisor Sancti Stanislai, Episcopi Cracoviensis. Über diesem Stein ist ein Bild, ein altes Gemälde, zu sehen; es enthält in seiner Mitte den Boleslaus, bewaffnet, ringsherum am Rande aber in kleinen Bildern Züge aus der Geschichte seines Lebens und Todes.
Boleslaus Rex Nigglai, Ossiach
© Harald Hartmann, 2005
Als man im Jahre 1839 das Grab, welches seine Überreste enthalten sollte, öffnete, fanden sich darin Gebeine, eiserne Nägel und eine Schließe, welche wohl einst das Pilgergewand des königlichen Büßers geschlossen hatte.
Zum Andenken an den stummen Büßer, so nannte man den König, ernährte das Kloster immer mehrere Taubstumme, bis zwölf, die zu den verschiedenen Geschäften verwendet wurden. Durch die Zeichensprache, mit welcher sich einige Konventmitglieder befaßten, teilten sie ihnen einen gewissen Grad von Bildung mit.
Eine große Anzahl Polen besuchten auf ihren Reisen nach Italien und zurück das Stift Ossiach von Zeit zu Zeit, um die Grabstätte ihres vormaligen Königs zu sehen und zu verehren. Ein polnischer Edelmann benützte die Unaufmerksamkeit des Führers und Vorweisers der Seltenheiten dazu, den Ring zu entwenden. Dieser soll nachmals in der königlich polnischen Schatzkammer aufbewahrt worden sein.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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