Die Christmette der Toten
Im Landvolk herrscht noch vielfach der Glaube, daß die Seelen der Verstorbenen in Gestalt von abschreckenden Geistern den Menschen heimsuchen. Der gläubige Christ sucht ihrem Erscheinen vorzubeugen, indem er abends den Schlafraum mit Weihwasser besprengt und für die armen Seelen im Fegefeuer einige Vaterunser betet; denn nach der Meinung der Leute kehren nur die Toten wieder, welche im Leben nicht alle Sünden abgebüßt haben und vom Menschen Fürbitte erwarten. Noch verbreiteter ist der Glaube, daß die Toten zu gewissen Zeiten auf dem Friedhof einen Umzug halten. Besonders gefürchtet ist die Christnacht, denn da sollen die Toten in der Kirche unter großer Feierlichkeit die Mette begehen. So erzählt eine Sage aus Millstatt:
Ein altes, kränkliches Weib wohnte der Christmette bei. Es saß in einem Winkel an der Wand, so daß es von vielen Kirchenbesuchern nicht bemerkt wurde. Als die feierliche Handlung beendet war, drängte alles Volk dem Ausgange zu und verließ fast gruselnd die Kirche. Das alte Mütterchen war in seinem Winkel eingeschlafen. Eine Zeitlang herrschte Totenstille, auch der Mesner verließ eilends die Kirche, nachdem er am Altare Ordnung geschaffen hatte.
Plötzlich war der Raum hell beleuchtet und von ferne klang es wie Orgelton. Davon erwachte das Mütterchen und sah nun, daß es allein in der Kirche war. Noch bevor es recht zum Bewußtsein seiner Lage kam, sah es, wie weißgekleidete Totengerippe in die Kirche zogen, darunter eine Verwandte des Weibes, welche erst vor einigen Tagen gestorben war. Diese trat nun schnell an das zu Tod erschrockene Mutterchen heran und befahl ihm, schnell aus der Kirche zu gehen und vor dem Tor sein „Umhängtuch“ fallen zu lassen. Im Fortgehen dürfe es aber nicht umsehen, sonst sei es des Todes.
Das Mütterchen eilte nun dem Ausgange zu und ließ dort das Tuch fallen. Am Morgen fand man auf jedem Grabe ein Stück davon.
In Kaning geht eine ähnliche Sage. Ein Bauernbursche verweilte nach der Christmette mit seinem Vater noch eine Zeitlang in der Nähe der Kirche und besprach dies und jenes. Als er endlich allein den Heimweg antrat und an der Kirche vorbei so langsam dahinschlenderte, bemerkte er plötzlich an den Kirchenfenstern einen hellen Lichtschimmer. Verwundert, daß zu so ungewöhnlicher Zeit die Kirche beleuchtet sei, wollte er der Sache auf den Grund gehen, nahm bei einem Hause eine große Leiter und stellte sie ans Kirchenfenster. Dann stieg er so weit empor, daß er mit einem Auge in das Innere sehen konnte. Was er da gesehen, hat niemand von ihm erfahren. Soviel ist gewiß, daß er seit jener Nacht auf dem Auge, mit welchem er in die Kirche schaute, blind war.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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