Zur Einführung
Das Volk nennt seine einfachen, schmucklosen Erzählungen, die bei beschaulicher Beschäftigung, wie sie die ländliche Wirtschaft früher so häufig mit sich brachte, meist vor einem größeren Zuhörerkreise vorgetragen wurden, „Geschichten". Sie haben keinen anderen Zweck, als für den Augenblick zu unterhalten und die innerhalb und außerhalb des Menschenlebens zu beobachtenden rätselhaften Vorgänge aus den Anschauungen zu erklären, „die im Volke umlaufen und auch auf jeden einzelnen Fall anwendbar sind". Wenn nicht einmal das Volkslied mit seiner gebundenen Form vor Erweiterung oder Verstümmelung geschützt ist, so noch weniger die Volkssage in ihrer freien, von dem Augenblick geschaffenen Gestalt. Sie haftet auch nicht durchwegs an dem Ort ihrer Entstehung, sondern löst sich oft von dem Boden, aus dem sie erwachsen, los und flattert gleich Blütensamen über die Lande, um manchmal an weit entlegener Stelle wieder Wurzel zu fassen und aufzukeimen. Das ändert nichts an ihrem Wesen; wo sie sich ansetzt, nimmt sie die Farbe der Landschaft, die Eigenart des dortigen Menschenschlages an und erlangt Heimatberechtigung. Das sind die sogenannten Wandersagen“. Nur wenige Beispiele mögen dies zeigen.
Trefflichen Einblick in das Wesen, Werden und Wachsen der Sage und die ihr zugrunde liegenden Vorstellungen gewähren: F. Ranke, Die deutschen Volkssagen. (Deutsches Sagenbuch von F. v. d. Leyen, 4. Teil.) München, 1910. O. Böckel, Die deutsche Volkssage. Leipzig, 1909. F. Panzer, Märchen, Sage und Dichtung. München, 1912. K. Wehrhan, Die Sage. Leipzig, 1908. Einblick in die neuere Volkssagenforschung bieten: F. v. d. Leyen und V. Höttges, Lesebuch der deutschen Volkslage, Berlin 1933; F. Ranke, Volkssagenforschung. Vorträge und Aufsätze. Breslau, 1935. Eine reiche Bibliographie der deutschen Sagen und Märchen gibt John Meier, Grundr. d. germ. Philol. II² S. 1219—1258.
Das Motiv von dem im Traum geschauten Schatz auf der Brücke stammt aus einer orientalischen Novelle, die durch die Kreuzzüge nach Europa gebracht wurde und in ganz Deutschland und darüber hinaus verbreitet ist. Die ergötzliche Geschichte von Petrus, dem es unter den Maltaberger Holzknechten übel ergeht, nimmt einen ganz ähnlichen Verlauf wie eine elsässische Sage; und doch kann man ihr nicht absprechen, daß sie den Charakter des Landes, wo sie sich ansetzte, angenommen habe. - Die Sage von dem kostbaren Goldring, der, in die Flut geworfen, vor der Katastrophe wieder zum Vorschein kommt, enthält das bekannte Motiv aus der Geschichte des Polykrates. An zahlreichen Orten hat sie sich über das ganze Abendland verbreitet. - An steil abfallende Felswände knüpft die Sage überall die gleiche Erzählung, daß eine verfolgte Jungfrau den tollkühnen Sprung in den Abgrund gewagt habe und wie durch ein Wunder heil davongekommen sei. Sie ist schon für die Antike bezeugt. - Überwindung des Todes und Eingehen zum ewigen Leben sind die Motive der Sage vom Schmied am Rumpelbach. Dieser Mythus, erwachsen aus dem Nachdenken über das Rätsel des Todes, schuf die Sage vom Schmied, der an seinem Lebensabend vom Tod oder Teufel geholt wird. Das bekannteste Seitenstück zu unserem bietet die Sage vom Schmied zu Jüterbog, sie kommt aber auch sonst häufig vor.
Wenn sich hier noch in der unbestimmten Ortsbezeichnung Rumpelbach die Abstammung der Sage von einem weitverbreiteten Märchen verrät, so fehlt bei einer Reihe anderer, deren Hauptmotiv von außen hergekommen ist, nicht die bestimmte Angabe. Es ist die alte Flutsage, an die sich örterweise das Motiv von dem durch die Flut getrennten Liebespaare angeschlossen hat. Ihre klassische Prägung erhielt sie unstreitig in der Sage von Hero und Leander. Durch Ansetzen an bestimmte Örtlichkeiten gewinnt die Volkssage Heimatrecht in verschiedenen Gegenden; in Kärnten allein an mehreren Stellen. Eine der schönsten Wandersagen ist die von der treuen Herrin auf Taggenbrunn. Es ist ein Preis der treuen Gattin, die, als Harfnerin verkleidet, schweren Versuchungen widersteht und ihren Gemahl aus der Sklaverei des Sultans befreit. Schon ein Volkslied, das im 16. Jahrhundert viel gesungen wurde, behandelt dieses Thema. Die Sage hat sich an vielen Arten festgesetzt.
Es gibt in Nord- und Mitteleuropa eine Reihe kurzer Erzählungen, in denen ein harmloser Unhold (Niese, Kobold, Waldfrau, Teufel) von einem Menschen körperlich verletzt, geklemmt oder gebrannt wird, der sich „Selbst" oder so ähnlich nennt. Das zugrunde liegende Märchenmotiv ist schon in der Polyphemepisode der Odyssee verwertet.
Was nebst der örtlichen und zeitlichen Gebundenheit der Sage festeren Halt verleiht, ist der Glaube an die Wirklichkeit des Erzählten, den sie bei ihren Zuhörern voraussetzt. In alter Zeit glaubte man an den Inhalt der Sage überhaupt. Ganz besonders forderte die sogenannte mythische Sage unbedingten Glauben, um so mehr, als diese in vielen Fällen geradezu die Beispiele für die Wirklichkeit und Wahrheit des Volksglaubens zu erbringen hatte. Wir wissen jetzt, daß der Volksglaube und die übersinnlichen Vorstellungen in Sage und Märchen eine ältere, einfachere Art mythischer Dichtung darstellen, die in ihrer Wurzel Volksdichtung sind. Aus dem Untergrunde des Volkstums entsprossen, saugen diese Sagen daraus stets neuen Saft und verjüngen sich. Doch reichen keineswegs alle mythischen Sagen in das Heidentum zurück, sondern die sagenbildende Phantasie schafft derartiges fortzeugend immer wieder aufs neue. Aus einem gewissen Grundbestand von Motiven entstehen fortwährend neue Sagen, aber nicht jede läßt ohne weiteres den Gedanken, in dem sie ihren Ursprung hat, erkennen.
Allgemein menschlich ist der Glaube an Wassergeister. In ihrer Grausamkeit, Menschen anzulocken und in die Tiefe zu ziehen, lebt vielleicht eine leise Erinnerung an alte grausame Menschenopfer. Die Berg- und Waldgeister der Volkssage spiegeln den Eindruck der wilden Waldnatur auf das Gemüt des Menschen. Als hadische Leute sind sie die verdrängten Ureinwohner des Landes. In späteren Sagen wird ihre Dummheit und Plumpheit, ihre Riesenbaukunst und Überlistung durch den Menschen auf den Teufel übertragen Es sind zum größten Teil Erklärungssagen, die die Herkunft einzelner Felsblöcke und alter Bauten als Riesenwerk deuten. Auch die verschiedenen Erscheinungsformen der Zwerge als Bergmandeln, Schratl, Hollenleute, gute Leutlan entstammen zum Teil Naturerlebnissen. Mit ihnen mischt sich aber der Glaube an das Fortleben der Toten und späterer Teufelsglaube. Ebenso geht die Vorstellung von den Saligen Frauen in ihren Ursprüngen teils auf Naturvorgänge, wie Nebel- und Lichterscheinungen, teils auf den Seelenglauben zurück. In den Billeweiß mischen sich Züge einer heidnischen Gottheit und von Wachstumsgeistern mit Märchenmotiven.
Welchen Wandlungen die Sage im Volksmund ausgesetzt ist, zeigt die Geschichte von dem Riesenfräulein der Rödernwand. Die Heidin läßt sich des „Flachses Qual", das heißt den Hergang bei der Bearbeitung des Flachses, erzählen. Sie verschwindet nicht, wie unsere Sage erzählt, weil ihr das zu langwierig vorkommt, sondern, wie viele Parallelen zeigen, weil die Bäuerin das Gespräch bis zum Ablauf der Zeit, während welcher die Unholdin Macht über sie hat, hinzuziehen weiß. - Wie grausam scheinen die Leute zu handeln, welche den armen Wechselbalg ins Wasser werfen, und wie herzlos die Saligenmutter, welche ihr eigenes Kind über die Brücke hinabstößt. In der älteren Zeit jedoch scheint die Auffassung bestanden zu haben, daß die Geisterkinder gleich nach der Geburt dem Elemente, wo die Ihrigen hausen, übergeben werden müssen. - Der Alp, die Mahre oder Trude sind Quälgeister, welche auf Erfahrungen des Traumes zurückgehen. Sie setzen sich dem Schlafenden auf die Brust, drücken und würgen ihn, daß er schweißgebadet und matt erwacht. Oft entledigt sich der Träumende der beängstigenden Last des Alpdruckes durch einen heftigen Ruck, einen Aufschrei, der ihn aus dem Schlafe weckt und das Gespenst verscheucht. Daraus schließt die Sage, daß der Alp entflieht, sobald er mit Namen genannt wird, weshalb gefangene Alpweiber ihren Namen verhehlen. Mit dem Bekanntwerden des Namens verliert dessen Träger seine dämonische Macht. Durch Nennung des Namens werden auch andere Unholde und Geister verscheucht: der Wechselbalg, die Hexe, der Teufel; und schließlich erkennen wir dasselbe Motiv in den Geschichten, wo die Salige durch eine falsche Handbewegung oder Schelten verscheucht wird. Ebenso verschwinden die Wundergaben, der nie endende Flachsknäuel, sobald Vorwitz oder Ungeduld nach dem Woher der wunderbaren Erscheinung zu grübeln beginnt.
Aus den Angstträumen der Wöchnerin, vielleicht auch aus Fällen von Kretinismus, erklärt sich der Kindertausch mit dem Wechselbalg. Eierschalen als Töpfe sind schon im Altnordischen bezeugt. Aus einer Art Alptraum, dem Hockauftraum, stammen auch die Menschen- oder Roßlenden, die der Wilde Jäger oder die Wilde Jagd den Lauschenden zuwirft, ebenso das Beil im Rücken. Die Entführung durch das Wilde Heer wird auf epileptische Dämmerreisen zurückgeführt. Alt dagegen ist die Vorstellung vom wütenden Heer der Totenseelen, die im Sturme dahinbrausen und unter christlichem Einfluß teuflischen Charakter erhielten. Ebenso alt ist die Pechtra baba (Frau Percht), Perchtel oder Berchtra mit der mimischen Darstellung dieser Wachstumsgeister im kärntischen Bartellauf. Ihren Namen erkläre ich noch immer mit Waschnitius aus dem althochdeutschen „pergan“, verbergen, womit sie den unterirdischen Hollen und nicht der aus dem Orient stammenden Bezeichnung des Dreikönigstages gleichzusetzen ist.
Vergrabene Schätze kommen zuzeiten an die Oberfläche und „blühen". Wer sie bannen will, daß sie nicht wieder in die Tiefe sinken, muß irgend etwas in die Flamme werfen, sein Messer oder einen Schuh, oder ein Tuch überbreiten. In einer Sage wirft der Pfleger seinen Schuh auf die Schatzkiste; aber das Motiv wird nicht mehr verstanden, und so heißt es, er habe für diesen Frevel sein Bein eingebüßt.
Besonders kennzeichnend für Kärnten sind die vielen Sagen von Schlangen als schatzhütenden Tieren und von den Schlangenjungfrauen. Die Schlangenjungfrau wie die Vorstellung der gekrönten Schlange ist keltischen Ursprungs.
Alte Heiligtümer waren vielfach mit Ketten umspannt. Diese Umhegung war ein Bindezauber, der die geweihte Stätte und damit die Gemeinde vor Unheil schützen sollte. Da nun in Kärnten mehrere Leonhardkirchen solche Ketten aufwiesen, setzte sich an diesen in mißverständlicher Auffassung der Tatsache die Sage von der wunderbaren Befreiung eines Gefangenen fest. Dazu kam, daß in Frankreich, woher der Leonhardkultus um das Jahr 1000 nach Deutschland drang, der Heilige durch volkstümliche Deutung seines Namens Lienard aus lien „Band", lier „binden" zum Patron der Gefangenen geworden war.
Mit diesem Stück geraten wir in das Gebiet einer anderen Art von Sagen, deren Eigentümlichkeit nicht so sehr im Stoffe selbst als in der Auffassung des Stoffes beruht: die „erklärenden Sagen". Sie sind vom Volke zur Erklärung des Ursprungs irgend eines auffallenden Ausdruckes, einer Erscheinung, eines Brauches erdichtet. Die Deutungskraft des Volkes übt sich besonders gern an auffallenden Ortsnamen und bildet entweder eine neue „etymologische" Sage, um durch diese den Namen zu begründen (der Ort Danz habe seinen Namen von dem Tanz, den einst die Saligen hier aufführten; andere Deutungen enthalten die Sagen von Würmlach, Rubland, Schintemunt, Annabichl und Emmersdorf), oder sie bringt eine bereits vorhandene Sage mit dem Ort in Verbindung. So bestanden zwar aus der Zeit Rudolfs von Habsburg Verordnungen, daß Missetäter ohne weiteres gehängt werden durften; aber die Herleitung des Namens Klagenfurt, wie sie Äneas Sylvius erzählt, ist in Klagenfurt nicht bodenständig. Die Sage von dem Bäckerjungen, der ohne Untersuchung verurteilt und gerichtet wird, kommt u. a. auch in Venedig vor.
Ferner erfand man Geschichten, um verdunkelte Personen- und Geschlechternamen zu erklären: Landskron, Ungnad, Anderwald, Deutschpeter. Aus Grabdenkmälern las das Volk manches heraus, was geschichtlich nicht begründet ist. Von einem Stein, der an der Außenwand der Kirche zu Ossiach eingemauert ist, hat die gänzlich erfundene Geschichte von Boleslavs, des Polenkönigs Büßerleben im dortigen Kloster seinen Ausgang genommen. Nach der Ermordung des Bischofs Stanislaus von Krakau wird er 1079 aus Polen vertrieben und stirbt 1081 in Ungarn. Erst im 15. Jahrhundert läßt ihn ein Chronist über Ungarn hinaus westwärts bis nach Wilten ziehen. Ossiach nennt zuerst Matthias de Michovia 1521. Im selben Jahr erwähnt J. L. Decius zum erstenmal das Seekloster Ossiach als Boleslavs Grabstätte. Der angebliche Grabstein ist ein Römerstein mit der oft vorkommenden Darstellung eines gesattelten Pferdes und einer Mannesgestalt. Zur Beglaubigung der Sage wurde daran eine falsche Inschrift angebracht, die schon im 16. Jahrhundert bei Megiser erwähnt wird. Auch der Ossiacher Nekrolog nennt Boleslavs Todestag nicht.
Die allegorischen Tiergestalten an Säulen des Millstätter Klosters, einen Löwen-, Wolfs- und Ziegenkopf, erklärt die Sage für die letzten Überreste heidnisch-slawischer Götzenbilder. Diese habe der sagenhafte Herzog Domitian, ein Bekenner des Christentums, in den See gestürzt und dafür eine dem göttlichen Erlöser geweihte Kirche erbaut. Von jenen Bildwerken ist die Sage ausgegangen.
Alte Wappenbilder regten, da man ihr Dasein erklären wollte, gleichfalls zur Sagenbildung an. (Das Wappen von Klagenfurt, der Spanheimer, der Keutschacher, des Ehrenreich von St. Veit) Selbst religiöse Bilder unterlagen der Erklärung durch die Sage. In der Nähe von Mariazell sahen die alljährlich zu Pfingsten hierherkommenden Wallfahrer aus Diex ein auffallendes Standbild, Maria mit dem Jesukind auf einem Pferd reitend. Was bedeutet dieses von der üblichen Darstellungen so abweichende Bild?
Wieder ein anderer Brauch, das Anzünden der Frühjahrsfeuer in der Osternacht, wird mit der Türkennot in Verbindung gebracht. Damals hätten die Lavanttaler Bauern angefangen, durch mächtige Feuer von Berg zu Berg das Herannahen der gefürchteten Horden bekanntzugeben. Auch sonst gewahrt man, daß der eine oder andere Brauch vom Volk zu irgend einem historischen Ereignis in Beziehung gesetzt wird, um ihm so gewissermaßen einen festeren, glaubhaften Hintergrund zu geben: Zu Weitensfeld im Gurktal hat sich ein sinniger Volksbrauch, der weitum in deutschen Landen bekannt ist, der alte Wettlauf nach dem Maibaum, in eigenartiger Form erhalten. An Stelle des einfachen Maibaumes ist hier eine künstlerisch ausgestaltete Brunnenfigur aus Holz getreten, und der Sinn des alten Pfingstrennens ist längst vergessen. Da hat denn die Sage freien Spielraum
In einem altheidnischen Kult, den die ersten Besiedler der Umgebung von Sachsenburg aus dem Norden mitbrachten, wurzelt die Sage vom Heiligen Mann der Niklai und von Briccius in Heiligenblut.
Zu den ätiologischen Sagen im weiteren Sinne gehören auch die von großen Freveln und ihrer Strafe. Denn in diesen handelt es sich meistens um die phantasievolle Erklärung von Naturerscheinungen: Was mag an Stellen, die heute von großen Wassermassen bedeckt sind, einst vorgegangen sein? Wie ist das Vorhandensein ausgedehnter Schneefelder und Gletscher oder die Schuttmassen von verheerenden Bergstürzen und Lawinen zu erklären? Warum gibt es im Lande so viele aufgelassene Bergwerke und halbverschüttete Stollen? Was bedeuten die Felsen, in denen die Phantasie menschliche Gestalten zu erblicken glaubt? Die Sage ist geneigt, in ihnen die Spuren göttlicher Strafgerichte für sündhaften Übermut oder Herzlosigkeit der früheren Geschlechter zu erblicken. Wo der Pflug Mauerreste und andere Zeugen alter Ansiedlungen zutage fördert, da muß einst eine Stadt gestanden haben, deren Bewohner den Zorn Gottes herausforderten. Frevler aller Art wurden auf der Stelle zu Stein. Eine sündhafte Stadt, das Dorf, wo lauter Hartherzige wohnten sind von den Fluten verschlungen worden. Bei den Sagen dieser Gruppe kommt hinzu, daß die lautlose Stille, die über einer breiten, ruhigen Wasserfläche brütet, oder der Sturmwind im naiven Menschen auch Klangwirkungen ausgelöst haben mag. Gleich halb vernehmbaren, fernen Glockentönen klingt es aus dem See zu gewissen Zeiten an das Ohr des einsamen Fährmanns, und wer mag es ihm verdenken, daß er in solchen Augenblicken von Städten träumt, die vom Wasser verschlungen wurden, oder von Glocken, die sich selbst vor Gram ins Wasser gestürzt?
Hoch oben in den Bergen tritt an Stelle des Wassers das Eis des Gletschers. Was solchen Sagen im Volk eine starke Wirkung sichert, ist, daß sie an die Stätte der Öde und Verlassenheit früheren Reichtum und Wohlstand setzen und von einem goldenen Zeitalter erzählen, das die Menschen durch eigene Schuld verscherzt haben. Mag in den übrigen Fällen, und es gibt deren überall genug, jene rein psychologische Erklärung ausreichen, so fehlt wenigstens den kärntischen Sagen dieser Art nicht ein tatsächlicher Kern.
Durch Hunderte von Jahren galt der Erzreichtum Kärntens als unerschöpflich. Bewohner und Fürsten schenkten dem Bergbau ihre höchste Aufmerksamkeit. Insbesondere Oberkärnten mit seinen unzähligen Bauten auf Gold, Silber, Quecksilber, Kupfer, Blei und Eisen war in früheren Zeiten auf die Ausbeutung seiner natürlichen Reichtümer angewiesen. Bis in die höchsten Gebirge, die unzugänglichsten Gegenden erstreckte sich die Tätigkeit der Bergleute, ja, gerade dort scheinen sie die größte Ausbeute gemacht zu haben. Im Katschtal, im Gmündner Tal, Elendtal, Gail-, Gitsch- und Mölltal, zu Steinfeld im Drautal geben verfallene Stollen, Ruinen von Grubenhäusern, Poch- und Schmelzwerke und Trümmer von Gewerkshäusern noch jetzt der Phantasie mächtige Anregung. An zahlreichen Gebirgs-flüssen gab es Goldwäschereien. Im Rosental, Kanaltal und Lavanttal sind die Bergwerke uralt, in der Hüttenberger Gegend kann der Eisenbergbau auf ein hohes Alter zurückblicken. Die Ausläufer dieser „Haupteisenwurzen" des Landes benutzte man im oberen Laoanttal; in Oberkärnten blühte der Eisenbau in der Krems. Zahlreiche Hammerwerke verarbeiteten das Eisen. Das Aufhören dieser gewinnbringenden Tätigkeit ist den unseligen Ereignissen des 16. und 17. Jahrhunderts, den religiösen Verfolgungen der Gewerken und Bergleute, welche meist lutherisch waren, zuzuschreiben; als Hauptursache des Verfalls der heimischen Bergbetriebe gilt jedoch die Einführung des billigeren Goldes aus Amerika und die sinkende Ergiebigkeit der Erzgruben. An alte, verfallene Schächte, die Spuren der ersten Bauten (ein solcher ist der Ausbiß beim heutigen Lehen Jangen am Erzberg, an welches unsere Sage anknüpft), schließt sich die häufig auftretende Sage vom Reichtum und Übermut der Knappen. Wirklich kam es im Laufe des 11. Jahrhunderts vor, daß die ausgelassenen und mutwilligen Hüttenberger Knappen, damals noch großenteils selbst Eigentümer der Gruben, sich zusammenrotteten und nur mit Mühe bewältigt und im Zaume gehalten werden konnten.
Wenn man auch den Sagen über den Reichtum des einen oder andern Ortes nicht allzuviel Glauben beimessen darf, so fehlt es doch auch nicht an Angaben, daß da und dort einzelne Leute Erze geholt und damit gute Geschäfte gemacht haben. In den Tauern gab es Gruben mit einer lehmigen, bläulichen Substanz, unter dem Namen „Goldlasur" bekannt (sie spielt in manchen Sagen eine wichtige Rolle), die ungeheuer reich an Freigold war, daß sogar der an der Sohle des Stollens gefundene Schlamm von Goldsuchern fortgetragen wurde. Ist der „Wegweiser zur Dreimannshöhle" phantastisch-sagenhaft aufgeputzt, so wurde doch eine Beschreibung des Weges zu den „Goldlasurgängen" tatsächlich vorgefunden. Neue Nahrung fand die Sage von dem Übermut der Knappen, der vom Himmel mit der Entziehung der Erzadern bestraft wird, in alten Standbildern, wie sie hie und da noch in Orten mit altem Bergbau anzutreffen sind: eine eherne Bruthenne, das Sinnbild des über seinem Reichtum brütenden Berges. Mit einem wirksamen Fluche soll das Gebilde von der schwergekränkten Frau in den Stollen gesetzt worden sein.
In Gegenden mit altem Bergbau tritt ferner häufig die Sage von den Walischen oder Venedigern auf. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts nahm der kärntische Bergbau einen wahrhaft großartigen Aufschwung, und die reichen Metallschatze des Landes lockten viele Ausländer aus Venedig, Nürnberg, Augsburg und anderswoher ins Land. Mag also manche Sage von den Wälschen immerhin durch solche Vorkommnisse veranlaßt worden fein, so ist auf der andern Seite nicht zu verkennen, daß sie im Volksmunde schon frühzeitig durch Züge aus den Geschichten vom Teufel und den Schwarzkünstlern bereichert wurden. –
Ebenso enthalten bei aller Phantasie die Vergletscherungssagen ein Körnlein Wahrheit. Es steht z.B. fest, daß der alte Goldbergbau mitten im Gletscher zwischen dem Kloben und Brennkogel, wo bedeutende Reste von Bauwerken, Gebeinen, herausgeforderte Erze, Mundlöcher und eine Knappenstube gefunden wurden, durch ein gewaltiges Naturereignis, und zwar wahrscheinlich durch einen Schneesturm oder eine Lawine plötzlich zerstört worden ist und die dort aufgehäuften Schneemassen sich allmählich vereist haben. Schneelawinen nötigten 1876 auch im Mölltal zur Einstellung des Goldbergbaues; zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde das Bergwerk in Kliening aufgelassen, da man keine Ausbeute mehr erwarten konnte; es soll später „ersoffen" sein.
Ein wirkliches Ereignis wird auch den Anlaß zu einer anderen Bergwerkssage gegeben haben. Viele Jahre nach einem Grubenunglück wird, wie zu Falun, die Leiche eines Bergmannes zutage gefördert und von einem alten Mütterchen als ihr einstiger Bräutigam erkannt.
Doch meist sind es die Erscheinungen in der freien Natur, die den Menschen zum Nachdenken reizen, seine Phantasie beschäftigen und sagenbildend wirken. In dem Wildwasser, das aus unzugänglichen Schluchten hervorbricht, den Anwohnern Verderben bringt und allen Anbau vernichtet, sieht die Volksphantasie ein schlangenartiges Untier. Durch phantastische Vergrößerung erwächst aus dem Bild der Drache oder Lindwurm. Im abgelegenen Alpensee lauert er auf seine Beute; wenn er den Damm oder Felswall, der die Fluten zurückhält, durchbeißt, stürzen sie sich verheerend über menschliche Ansiedlnngen. Der Drache aber, der im stillen Talsee haust und alles verschlingt, was sich ihm nähert, bedeutet wohl den dichten Nebel, der aus solchen Gewässern häufig aufzusteigen pflegt und die ganze Umgebung bedeckt.
Hinwieder sind es Erscheinungen im menschlichen Leben: Schlaf, Traum und Tod, auf deren primitiver Deutung die vielen Sagen von den Seelen, den verwunschenen, auf Erlösung harrenden Menschen, den Schatz- und Spukgeistern u.a. beruhen.
Es bleibt aber in der Sage fast nie bei der Erfindung einfacher Motive, sondern diese werden zueinander in mannigfache und reizvolle Verbindung gesetzt. Das Volk hat an gewissen Vorstellungen besondere Freude und leitet aus feiner autoritativen Stellung gegenüber dem Sagengute das Recht ab, sie nach freier Wahl zu immer neuen Gebilden zu verschmelzen, sie gegenseitig zu durchkreuzen; damit betätigt es seine freie Schaffenslust. Nieder sollen einige Beispiele dies deutlich machen.
In vielen Sagen harrt eine verwunschene Seele, eine zur Schlange verwandelte Jungfrau oder sonst ein unseliger Geist auf Erlösung; sie kann ihnen durch fromme Werke oder eine mutige Tat zuteil werden. Wenn aber der Versuch gescheitert ist, klagt die Seele häufig, sie könne nun erst erlöst werden durch ein Kind, das in der Wiege gelegen habe, welche aus dem Holze eines bestimmten, erst in weiter Zeitenferne aufsprießenden Baumes gefertigt werden soll. Dieses Motiv hat sich in viele heimische Sagen gedrängt; es entstammt der Erzählung des Nikodemusevangeliums, wonach Adam in der Vorhölle jubelt, als seine an das Aufwachsen des Baumes geknüpfte Erlösung sich vollziehen soll.
Etwas schwieriger fällt es, die ursprünglichen Motive aufzufinden, wenn die Sage historische Vorgänge und Personen behandelt.
Ereignisse, die sich an der Wende des 10. und 11. Jahrhunderts im Jauntal abspielten, sowie die Erinnerung an die Taten gewaltiger Persönlichkeiten des 12. Jahrhunderts haben offenbar die schwermutvolle Erzählung von der seligen Hildegard zu Stein schaffen helfen. Obwohl die Namen der Haupthelden, Albwin und Hildegard, für Mitglieder eines kärntischen Adelsgeschlechtes mehrere Male bezeugt sind, gibt es weder genauere Nachrichten über das Leben und das Todesjahr noch über eine fromme Stiftung der Hildegard unserer Sage.
Diese ist weit entfernt, wirkliche Begebenheiten wiederzugeben, vielmehr enthält ihr erster Teil, der vom Schicksal Lintkards ausgeht, starke Anklänge an die Crescentia- und Genovevalegende und wurde zudem an einem Ort festgehalten, wo ein auffälliges menschenähnliches Gebilde, die „steinerne Melk", wieder seinerseits nach einer Erklärung verlangte; der zweite knüpft an jene historische Hildegard an und klingt in einer der häufig vorkommenden Gründungslegenden aus. –
Zwei altbiblische Motive: der Becher in Benjamins Sack (Genesis 44, 1-17) und die Rachsucht des verschmähten Weibes (Potiphar, Genesis 39), beide ursächlich miteinander verknüpft, gesellen sich einem dritten, volkstümlichen Motiv zu, das aus dem Volksglauben von der Verwandlungsfähigkeit der Seele stammt. Zu einem harmonischen Ganzen vereinigt finden sich diese Züge in der Sage „Die Tauben zu Tiffen". Hier weist die Sage selbst noch auf ein Bild hin, das den Anlaß zu ihrer Entstehung gab; sie ist aber trotz der genauesten Beziehung auf Tiffen nichts anderes als die auch außerhalb Kärntens, so in Sachsen, lokalisierte alte Legende vom geretteten Pilger, der, unschuldig gerichtet, am Galgen lebendig blieb.
Das biblische Jephtamotiv klingt an in der Sage, wo der Teufel ein seinem Partner noch nicht bekanntes Opfer fordert.
In einem Falle haben wir bereits bemerkt, daß auch epische Lieder unter Umständen in die Volkssage eingehen können. Das geschieht zu einer Zeit, wo das Verständnis für die künstlerische Form und den rhythmischmelodischen Wohllaut, die Freude am Lied abhanden gekommen ist. Dann fristet sein epischer Gehalt als simple Geschichte noch eine Zeitlang sein Dasein und heftet sich an eine Örtlichkeit, die dafür - wir wissen nicht immer warum - besondere Eignung besitzt. Solcher Sagen, die auf epische Lieder zurückgehen, bringt die Sammlung mehrere: das schon erwähnte „Weiße Hemd", Heimgekehrt, einzelne Geschichten aus dem Sagenkreis von König Matthias, Der Totenritt u. a. Dagegen wurzelt die Sage vom ewigen Juden in dem alten Volksbuche, das weit verbreitet war und auch in Kärnten einst viel gelesen wurde.
Nach diesen allgemeinen Erörterungen, die uns schon vielfach auf die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Sage geführt haben, soll schließlich eine gedrängte Betrachtung der sogenannten „Geschichtssagen" erfolgen. Was sich bei diesen dem Leser zuerst aufdrängt, ist wohl die Frage, ob die geschichtlichen Namen und geographischen Bezeichnungen, welche dem Verständnis einer Sage die erste Handhabe zu bieten scheinen, wirklich auf innerem Zusammenhang der Sage mit historischen Personen und Ereignissen beruhen. Ist die Dichtung wirklich aus dem Grunde der Geschichte entsprossen oder verfährt sie willkürlich mit ihrem Stoffe? Für diese Sagen gilt im allgemeinen der Grundsatz, daß jede einzelne erst sorgfältig auf ihren historischen Gehalt und nach inhaltlichen und stilistischen Merkmalen auf ihre Verwandtschaft mit außerkärntischen Überlieferungen geprüft werden muß, ehe sie als geschichtliches Zeugnis in Anspruch genommen werden darf. Irgend ein Geschehnis, das in der Erinnerung des Volkes haften bleibt, dessen tiefere Ursachen aber unbekannt geblieben oder vergessen sind, regen seine Phantasie zu einem Wiedererschaffen der wirklichen Geschichte in der Sage an. Je länger diese lebt, je weiter sie sich von der Zeit und dem Schauplatze des historischen Geschehnisses entfernt, desto mehr tritt in ihr die Erinnerung an die Verhältnisse und Personen zurück, desto freier wird der überkommene Stoff vom Dichter gehandhabt, desto mehr dringt das Typische, Poetische in den Vordergrund und verdunkelt die Tatsachen. Der geschichtlichen Sage fehlt die objektive Wahrheit, deshalb ist sie als Geschichtsquelle unbrauchbar.
Sie setzt schon in den Zeiten der ersten Ausbreitung des Christentums in Kärnten ein. In Wahrheit wurden die karantanischen Slawen erst unter Thassilo von Bayern und Karl dem Großen durch geistliche Sendlinge des salzburgischen Bischofs Virgilius bekehrt. Jaksch hält den vielbesprochenen Ingo für einen solchen karolingischen Sendboten. Aus der Art, wie dieser Sagenheld seine heidnischen Unterhäuptlinge demütigt, klingt vielleicht die Tatsache nach, daß bei mehreren slawischen Stämmen die Supane dem neuen Glauben den stärksten Widerstand entgegensetzten. Auch die Kämpfe der ersten deutschen Ansiedler mit den Slawen haben in der Sage Spuren zurückgelassen. - Nach Arnulfs Tode benutzten die Magyaren die schwache Regierung und den Zerfall des Karantanerreiches zu Einfällen und dehnten ihre Verheerungszüge durch Deutschland bis Italien und Frankreich ans. Nur einzelne Horden wurden von deutschen Streitkräften unschädlich gemacht, auf kärntischem Boden ließen sie sich überhaupt nicht blicken. Es sind also die allgemeinen Zustände des Reiches, welche die Sage von der angeblichen Schlacht des Herzogs Rathold veranlaßt haben. –
An die Totenberge knüpft vielfach die geschichtliche Sage von dem im Berginnern schlafenden Kaiser an. War ein großer Herrscher schon bei Lebzeiten der Lieblingsheld des Volkes geworden, so mochte man, wenn er gestorben war, nicht an seinen Tod glauben, wie bei Karl dem Großen, Friedrich Rotbart und Friedrich II. Sie sind mit ihren treuen Scharen, welche sie im Leben von Sieg zu Sieg geführt, in den Berg gezogen und harren dort schlafend mitten in ihrem Hofstaate der Wiederkehr. An diese heimischen Überlieferungen schloß sich die aus dem Morgenlande eingewanderte Sage von einem mächtigen Fürsten, der einst wiederkommen wird, um sein Volk aus Gewissensnot und Glaubenskampf zu befreien. In Kärnten tritt sie an mehreren Orten auf. Es ist bemerkenswert, daß die Überlieferung von Karl dem Großen, in Deutschland nicht sehr häufig, sich in der Nockgegend festgesetzt hat und in den Sagen vom „Freimann" Carolus zum Ausdrucke gelangt. Das Bild, das die Sage von ihm entwirft, und das so gar nicht auf einen Freimann zutrifft, scheint von dem ursprünglichen Gedanken an den schlafenden Kaiser angeregt zu sein: er sitzt an einem steinernen Tisch, in einen Purpurmantel gehüllt, ein blankes Schwert in der Hand; ein andermal erscheint er als Mann mit grauem Bart und der „Würde eines Königs". Man darf diese Sagen um so eher auf den großen Karl beziehen, als auch Ortsnamen, wie Karlnock und Karlbad, beide in unmittelbarer Nähe des Stangnocks, seine Erinnerung festzuhalten scheinen. Wahrscheinlich gehört auch die mythische „Kaiserburg" auf dem Wöllanernock in den Kreis der Karlsage. - Ähnliche Sagen gehen von den beiden Hohenstaufen Friedrich, wobei es sich nicht jedesmal bestimmt unterscheiden läßt, welcher der zwei berühmten Namensträger gemeint ist. Beide haben nachweislich vorübergehend in Kärnten geweilt: Rotbart erschien am 3. März 1170 mit glänzendem Gefolge in Friesach; Friedrich II. schlug bei seinen Reisen nach Deutschland 1235 und 1236 den Weg durch Kärnten ein. - Der Held der slowenischen Kaisersage ist König Matthias Corvinus von Ungarn, ein kriegerischer Herrscher, der tatsächlich im Besitze von Österreich, Steiermark und Kärnten stand, als ihn 1490 mitten in kühnen Entwürfen der Tod überraschte. - Wie anderwärts haben sich in Kärnten an die Kaisersage Prophezeiungen vom Weltende, von der letzten, großen Schlacht, in der die Ungläubigen von den Christen geschlagen werden, sowie von verborgenen Schätzen angeschlossen.
Was weiß das Volk nicht alles von Hemma zu erzählen, welches üppige Geranke umgibt die Person der Stifterin des Gurker Nonnenklosters! Sie war die Witwe des in Untersteiermark begüterten Grafen Wilhelm und gehörte selbst der Sippe der Grafen von Friesach-Zeltschach an. Ihren Sohn Wilhelm verlor sie 1036 tatsächlich durch Mord, aber nicht Bergleute, sondern der abgesetzte Herzog Adalbero von Kärnten vollbrachte die Tat. 1043 opfert sie ihren reichen Güterbesitz an zwei fromme Stiftungen, deren eine das Nonnenkloster in Gurk ist. Von diesem Punkte aus geht wohl die reiche Überlieferung von ihrem heiligmäßigen Leben und den Wundern, die ihre Person umgeben. Es sind die einzigen urkundlich beweisbaren Ereignisse in ihrer Lebensgeschichte; auch der heutige Gurker Dom stammt aus späterer Zeit.
Einen gewissen Kern geschichtlicher Vorgänge, aber sagenhaft verändert, enthält ferner die Gründungssage des Klosters Viktring. Dieses wurde 1142 aus Weiler-Bettnach in Lothringen besiedelt; die Geschichte des Löwenkampfes beruht jedoch auf der gelehrten Erfindung eines Mönches, der zu diesem Zweck den Ortsnamen aus dem lateinischen“victoria“ erklärt; der Ortsname Viktring ist vorslawischer, vermutlich keltischer Herkunft. Jedenfalls ist die Sage vom Wettermacher nicht mit dem Ortsnamen in Verbindung zu bringen.
Ein eigentümliches Gemisch von Sage und Dichtung weist die Volksüberlieferung über Margareta Maultasch, die Enkelin Herzog Meinhards, auf. Margareta war mit Johann, des gleichnamigen Böhmenkönigs Sohne, vermählt. Die Kämpfe von 1336 zwischen Johann und den Habsburgern Albrecht und Otto endigten noch im selben Jahre mit einem Frieden, nach welchem jener für sich, seinen Sohn und dessen Gemahlin auf Kärnten, Krain und die windische Mark verzichtete. Wie wenig aber dieser und Margareta die Friedensbedingungen achteten, zeigen ihr ausdrücklicher Widerspruch und die ernsten Anstalten, welche sie wiederholt zur Wiedererlangung Kärntens trafen. Ihre Versuche, in das Kärntnerland einzudringen, scheiterten jedesmal an dem Widerstand, den ihnen die Görzer Grafen an den Grenzburgen und Engpässen des Landes boten. Erst die spätere Volkssage schildert Margarete als wildes Mannweib und läßt sie, nicht wie in Wahrheit nach ihrem Schlosse, sondern wegen ihres breiten Mundes „Maultasch" genannt sein; das böse Ende, das sie nach der Sage findet, ist ein aus der Alptraumsage wohlbekannter Zug. Die Belagerung von Dietrichstein und Hoch-Osterwitz sowie anderer kärntischer Burgen, welche die Sage nennt, gehört gleichfalls in das Gebiet späterer Erfindung. Die List der Belagerten, wie sie durch Prahlen mit den letzten Vorräten die Feinde täuschen und zum Abzug bringen, kehrt auch an anderen Orten wieder und bedeutet das Ende der Belagerung. –
Das Andenken an den einstigen Reichtum der Grafen von Keut-schach bewahrt heute noch die Volkssage. Leonhard von Keutschach, seit 1495 Erzbischof von Salzburg, brachte viele Schlösser an sich und legte mit den reichen Erträgnissen der Gasteiner Bergwerke den Grund zu ihrem Vermögen. Auf Tanzenberg begann damals ein festfrohes Leben. Aber wie sind die Dinge in der Sage verschoben! Ein Schloß, das so viele Fenster hat als das Jahr Tage, so viele Zimmer als dieses Wochen und so viele Tore als das Jahr Monate, kennt schon ein gälisches Märchen. –
Für kleinere Geschichten, die Taten beherzter Männer und Frauen, außerordentliche Erlebnisse und Schicksale von Manschen, die sonst im Ablauf der Werkeltage in der großen Masse verschwinden, geben bedeutende weltgeschichtliche Ereignisse einen prächtigen Hintergrund ab. Schwere Bedrängnisse, wie die Türkennot (1473—1492) und die Zeit der französischen Durchzüge und Besetzung (1797—1813) hinterlassen tiefe Spuren im Gedächtnis der Menge, so daß frühere und spatere Überlieferung gern in solche bedeutsame Zeiten verlegt werden.
In älteren Volksliedern begegnet schon das Grundthema unserer Sage „Heimgekehrt“. Dort ist es der Bräutigam oder Gatte, hier die Frau, welche nach langer Abwesenheit gerade noch rechtzeitig in die Heimat zurückkehrt, um eine zweite Heirat des anderen Gatten zu verhindern. Den historischen Hintergrund für die ganze Begebenheit bildet einer der vielen Türkeneinfälle, bei dem die Frau in Gefangenschaft gerät und nach Konstantinopel geschleppt wird. Heimlich entflieht sie, entgeht allen Gefahren und gelangt glücklich in die Heimat. Auf der Rückreise wird sie von den sagenhaften „Hundsköpfen", den Pslajnar, verfolgt; diese nun stammen, was seltsam genug ist, aus der langobardischen Volkssage. (Paulus Diaconus I., 11.) Das Langobardenreich erstreckte sich einst im Norden bis an die Drau.
Auch das Aussterben bekannter Geschlechter, der Tod ausgezeichneter Männer geht an der Sage nicht spurlos vorüber. In ihrer reflektierenden Art berichtet sie die Tatsache, daß das mächtige und reiche Grafengeschlecht der Ortenburger 1420 erlosch. Ebenso ruft das Aussterben der Salamanka, welche die Herrschaft der Ortenburger übernahmen, in phantasiebegabten Gemütern nach einer Erklärung. Aber keine einzige Urkunde bestätigt, was die Sage von der letzten Salamanka zu erzählen weiß; nur daß Georg 1640 als Letzter seines Stammes kinderlos starb, entspricht der Wahrheit. - Oder wie war es möglich, daß der vom Glück so gesegnete Wilhelm von Scharfenberg in der Schlacht am Wallersberg (14. März 1293) sein Leben verlor? Die Sage erklärt diesen plötzlichen Umschwung des Glücks mit dem Zauberring, den der Ritter von einem Elfenweib erhalten, und der ihm Glück und Macht, Reichtum und Ehren brachte, solange er seinem Herrn die beschworene Treue hielt.
Zu Beginn des 2. Jahrtausends begannen in Frankreich und Deutschland blutige Judenverfolgungen, hervorgerufen durch den Rassenhaß und den von den Juden betriebenen Geldwucher, und genährt durch den Glauben, daß die Juden Christenkinder raubten und deren Blut zu ritualen Zwecken verwendeten. Im 14. Jahrhundert wird gegen sie der Vorwurf erhoben, daß sie geweihte Hostien raubten und schändeten, was in Österreich mehrfach zur Austreibung der Juden führte. Aus Wolfsberg sollen sie verjagt worden sein, weil sie eine Hostie durchstachen, bis sie blutete. - Da dieser Zug in der Überlieferung des 14. und 15. Jahrhunderts zur Zeit der Judenverfolgungen sehr häufig wiederkehrt und in der Sage von Briccius und Heiligenblut anklingt, dürfte auch diese auf die Verhältnisse jener Zeit abgestimmt worden sein. Die Auffindung der Leiche und ihre Überführung durch ein freigehendes Ochsengespann, die Wahl des Platzes durch die Tiere sind lauter Motive, die wir auch in anderen Gründungslegenden (Gräbern, Gurk, Pusarnitz) häufig begegnen.
Auf geschichtlichen Vorfällen beruht die Sage vom Kornett auf Waldenstein. Der bambergische Vizedom Dornbach in Wolfsberg läßt den Kornett Peter Eckhardt aus Eifersucht heimtückisch überfallen und auf Schloß Waldenstein in Gewahrsam bringen, wo der Unglückliche 1669 durch die Schuld des Kerkermeisters verhungert. Den Beweggrund der Eifersucht läßt sich die Sage nicht entgehen, den Zufall aber schaltet sie als unbrauchbar aus. Dagegen sind der schriftliche Protest des Eingekerkerten und die unverlöschten Blutzeichen an der Wand Motive, die auch anderwärts vorkommen.
Fast ganz verwischt sind in den betreffenden Sagen die Vorgänge während der religiösen Bewegungen des 16. und 18. Jahrhunderts. Schon sehr früh hatte der Protestantismus in Kärnten Eingang gefunden und bald solche Fortschritte gemacht, daß zu Ende des 16. Jahrhunderts fast das ganze Land der neuen Lehre anhing. Zu dieser Zeit war es im slowenischen Teil des Gailtales besonders die Herrin Anna Neumann auf Wasserleonburg, sehr reich und angesehen, welche den neuen Glauben eifrig unterstützte und verbreiten half. In der Sage, welche sie als Erbauerin einer Kirche auf dem Dobratsch nennt, ist der tiefere Hintergrund ihres Handelns bereits vergessen. Mit dem Jahre 1600 trat eine gewaltsame Wendung der Dinge ein; die Gegenreformationskommission erschien in Kärnten. Wer sich nicht bekehren lassen wollte, wurde „emigriert oder transmigriert". In Oberkärnten blieb trotzdem fast die Hälfte der Bewohner insgeheim protestantisch und schien durch die Kommission nur noch verstockter geworden zu sein. Noch 100 Jahre nach dem Dreißigjährigen Kriege wurde die österreichische Regierung, die den Kampf um die religiöse Freiheit völlig abgetan wähnte, durch ein neues Aufflackern der religiösen Leidenschaften überrascht. So erinnert die Sage von der Bibel zu Kaning an die Tage, da Jesuiten und Missionäre unter dem Landvolk eifrig nach lutherischen Schriften und Bibeln fahndeten; freilich hat sich in ihr die Masse der solcherart zustande gebrachten ketzerischen Bücher zu einer einzigen großen Bibel verdichtet. - Dagegen kommt eine andere Sage der Wahrheit ziemlich nahe. Denn der Aufstand der Millstätter Bauern hatte tatsächlich in der wirtschaftlichen Bedrückung durch die Jesuiten seinen Grund; die Erstürmung des Schlosses, seine Wiedereroberung durch Spittaler Bürger sowie die Hinrichtung der drei Rädelsführer sind geschichtliche Tatsachen.
Wie im Volkslied bemerkt man auch in der Sage, daß das Volk in seiner Vorliebe für das Außerordentliche offen für Männer Partei ergreift, welche die menschliche Gesellschaftsordnung übertreten, kühne Räuber und geniale Betrüger. Häufig besitzen solch gefährliche Gesellen, wie es meint, die Gabe der Zauberei. Dieser seltsamen Vorliebe für alles, was das gewöhnliche Durchschnittsmaß überragt, ist es zuzuschreiben, daß an manchen Orten sich alte Lokaltraditionen erhalten haben. So standen die Bürger von St. Veit zu Beginn des 19. Jahrhunderts im dringenden Verdacht, es mit den Räubern zu halten, die im Wolschart hausten und die ganze Gegend unsicher machten. Es läßt sich sogar nachweisen, daß richterliche Behörden vor 1848 mit diesen Gesellen im Einvernehmen standen. Erst durch die Neueinrichtung der Gendarmerie ward dem Räuberunwesen im Lande ein Ziel gesetzt. Mehrere Sagen huldigen der Abenteuerromantik des Räuberlebens von damals.
Ein Ausnahmsmensch von der angegebenen Sorte war der Graf von Bohr, dessen Namen eine Rosegger-Sage bewahrt. Sie möge diesen Abschnitt beschließen, da man an ihr so recht die mannigfaltigen Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Sage, den Tatsachen und ihrer dichterischen Erfassung beobachten kann. Bohr war ein flandrischer Edelmann, der nach wechselvollem Leben zu Wien frühzeitig die Höhen des Daseins erklomm. Was seit jeher an ihm auffiel, war, mit welch fabelhafter Geschwindigkeit er sich ein großes Vermögen zu verschaffen wußte. Seit 1821 lebte er mehrere Jahre in Klagenfurt und erstand bei der Versteigerung des Rosenbergschen Besitzes nebst anderen Gütern in Kärnten auch Rosegg, übersiedelte aber, nachdem er diese Herrschaft an den Fürsten Liechtenstein verkauft hatte, bald nach Wien. Hier wurde er als einer der raffiniertesten, aber auch gewandtesten und gebildetsten Banknotenfälscher entlarvt und starb 1846 im Gefängnis.
Daß ihn die Sage nach der Entdeckung seines Verbrechens zum kaiserlichen Münzamtdirektor erhebt, ist darauf zurückzuführen, daß Bohr im Gefängnis dem Generalsekretär der österreichischen Nationalbank die verblüffendsten fachmännischen Ratschläge zur Herstellung von Banknoten und zur Verhütung von Fälschungen erteilt hat. Ferner hat ihn nicht ein Augenleiden, wie die Sage will, bei der Herstellung gelungener Fälschungen beeinträchtigt, was zur Entdeckung seines Frevels geführt haben soll; wohl aber wußte er lange Zeit eine solche Krankheit geschickt vorzutäuschen und dadurch jeden Verdacht von sich abzulenken. –
Heute ist die Sagenkunde ein Teil der [...] Volkskunde [...]. In der Sage spiegelt sich die geistige Welt des Volkes, aus der sich die alten Vorstellungen und Anschauungen immer lebendig und wirksam erhalten. Soweit es sich zurückverfolgen läßt, berühren sich die beiden Volksstämme, die auf kärntischem Boden wohnen, seit jeher auf das engste. Daher bewahren die Windischen, wie in allen anderen kulturellen Belangen, auch in ihrem Sagenschatze viel reindeutsches Gut. Am offenkundigsten tritt dies hervor bei den Žak Žané, beim Schimmelreiter, Škrat und Škopnjak, der Truta mora, der Pechtra baba, den Billeweiß und Pslajnar, den Sagen vom bergentrückten Kaiser und in vielem anderen. So wie sich der deutschkärntische mit dem Sagenbestande des gesamtdeutschen Sprachgebietes aufs engste berührt, so innig ist die Verwandtschaft zwischen dem geistigen Besitzstande der beiden Siedelungsvölker Kärntens.
[... 2 Sätze]
[...] = von der SAGEN.at-Redaktion gestrichen.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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