Die Entstehung des Elendgletschers
Die Hochtäler des Elend, wo heute die Gletscher blinken und nur Schafe und Ochsen durch zwei Monate ihre kärgliche Weide finden, waren in alter Zeit mit saftigen Wiesen und freundlichen Matten bedeckt, auf denen große Viehherden weideten. An schönen Sommertagen strömte das Volk hinauf, um sich mit Tanz und Spiel in Gottes freier Welt zu vergnügen. Die Taler waren sehr fruchtbar, Jahr um Jahr wuchsen die Erträgnisse, Jahr um Jahr wuchsen aber auch der Stolz und Übermut des Volkes.
Eines Sonntags war die Menge wieder auf den Höhen versammelt, und die Burschen begannen in ihrem grenzenlosen Übermute mit Butter und Käse Kegel zu schieben. Mit vollstem Eifer gaben sie sich dem Spiele hin und merkten nicht, daß allmählich drohende Wolken am Himmel aufstiegen. Plötzlich brach ein schreckliches Gewitter los, ein Blitz nach dem andern zuckte in das Felsgeschröff nieder und wechselte ab mit fürchterlichen Donnerschlägen, große Hagelkörner prasselten zur Erde, mit Schnee und eisigem Regen untermischt. Da ergriffen die Frevler entsetzt die Flucht, aber sie kamen nicht weit, denn in kurzer Zeit war die Alm mit einer dichten Eisschicht bedeckt, welche alles Lebende begrub. Die Sennerin und der Halter flüchteten in die Sennhütte, aber auch sie ereilte das Verderben, sie erstarrten zu Stein, und bald war die ganze Gegend von einem Gletscher bedeckt. Überall war das Elend über den Verlust der fruchtbaren Weide groß, und der Name Elend blieb dem Gletscher bis auf den heutigen Tag. Noch kann man im Keesboden die zwei „steinernen Mandl" sehen. Sie wären zu erlösen, wenn einer sich die Mühe nehmen wollte, einen schwarzen Hahn, eine schwarze Katze und einen schwarzen Stier ins Kees hinaufzutreiben.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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