Die erlöste Jungfrau
Auf der Kühbrantnerhalt, etwa anderthalb Stunden von Liesing im Lesachtale, spielten einst zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen. Plötzlich stand ein kleines, schwarzgekleidetes Männlein vor ihnen und sagte, sie sollten sich nicht fürchten, wenn eine weiße Schlange komme, mit einer Krone auf dem Haupte und einem goldenen Schlüssel im Rachen. Diesen sollten sie ihr entreißen. Die Kinder versprachen das zu tun, worauf das Männlein verschwand. Bald darauf sahen sie die weiße Schlange daherkommen; sie hatte das goldene Krönlein und den goldenen Schlüssel. Doch ihr Anblick erfüllte sie mit Schrecken und sie liefen vor ihr davon.
Geraume Zeit darnach weidete auf derselben Stelle ein Hirte seine Herde. Auch ihm erschien das schwarze Männlein und bereitete ihn auf das Erscheinen der Schlange vor. Der Jüngling kannte keine Furcht, und als die weiße Schlange kam, entriß er ihr mutig den goldenen Schlüssel. Da verwandelte sich die Schlange in eine wunderschöne Jungfrau, die sich bei ihm freundlich für ihre Erlösung bedankte. Hierauf forderte sie ihn auf, ihr zu folgen, und führte ihn zu einer Felswand. Da nahm sie den goldenen Schlüssel, öffnete eine vorhin unsichtbare Tür und trat mit ihrem Begleiter in eine große Höhle, deren Wände von Gold und Edelsteinen schimmerten. Damit steckte sie dem Jüngling die Taschen voll und dankte ihm nochmals für sein Werk. Als beide ins Freie traten, fiel die Tür mit starkem Getöse zu. Der Hirte sah sich erschrocken um, aber die Jungfrau war verschwunden und auch die Pforte nicht mehr zu sehen.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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