Der Fichtling
Geht man von Haimburg nach Diex, so erblickt man links vom Wege auf der Anhöhe, der Wandelitzen, zwei riesengroße Fichtenbäume, die ganz vereinsamt dastehen und weithin sichtbar sind. Das Volk erzählt, daß in diesen Bäumen ein Zwerg hause, der von den Bauern kurzweg der Fichtling genannt wird. Seine Gesinnung gegen die Menschen hängt ganz von ihrem Verhalten ab.
Ein armer Keuschler, dessen Grundstück an die Anhöhe grenzte, worauf die beiden Fichten stehen, hatte bei seiner Arbeit gar kein Glück. In einem Jahre vernichtete der Hagel seine Saaten, im folgenden Jahre verlor er durch eine Seuche den ganzen Viehstand. Da es mit der Wirtschaft nicht gehen wollte, suchte er auf andere Art sein Brot zu verdienen und verdingte sich als Holzknecht, wobei er oft mehrere Tage nicht nach Hause kam. Eines Tages ersuchten ihn mehrere Bauern, die beiden Fichten zu fällen, weil sie wegen ihrer bedeutenden Höhe eine ständige Gefahr für die Einwohner bildeten; denn gerne schlägt der Blitz in einzelstehende Hochbäume. Es gibt aber Leute, die mit solcher Zähigkeit am Alten hängen, daß sie daran nicht rühren wollen; das war auch hier der Fall. Der Keuschler ließ sich weder durch Bitten noch durch barschen Befehl dazu bewegen. Er sollte dafür reichlich belohnt werden.
Der Fichtling befahl ihm nämlich aus Dankbarkeit, in der Heiligendreikönigsnacht die abgefallenen Tadeln zu sammeln. Nachdem der Keuschler diesen Auftrag befolgt hatte und am Morgen die Nadeln besah, glitzerten ihm statt der dürren Fichtennadeln zu seinem Erstaunen silberne entgegen und er war mit einem Schlage ein reicher Mann. Lange kümmerten sich die Leute nicht um ihn, bis es endlich auffiel, daß der arme Keuschler vollauf lebe, trotzdem er weder pflügte noch säte. Dadurch noch mehr neugierig gemacht, forschten sie weiter und entdeckten, daß seine Hütte mit schönem, kostspieligem Hausrat ausgestattet war. Bald verbreitete sich die Kunde von seinem Reichtum in der ganzen Gegend, aber wie er dazu gelangt war, blieb ein Rätsel. Viele Vermutungen wurden laut, aber keine traf das Richtige.
Als der Keuschler auf dem Sterbebette lag, rief er seinen Sohn zu sich, übergab ihm das Häuschen als Erbe und zeigte auf einen bis zum Rande mit Geldmünzen gefüllten Schrein. Dann sprach er: „Höre, mein Sohn! Solltest du einmal in Unglück geraten, so nimm dies Säckchen und geh zum Fichtling, der wird dir helfen!" Dann starb er und wurde in Ehren begraben. Sein Sohn, des Reichtums ungewohnt, vergaß bald die gute Lehre seines Vaters und begann ein schlenderisches Leben zu führen, das so lange dauerte, bis der Schrank geleert war. Nun gedachte er der Worte des Verstorbenen, schnallte ein Ledersäckchen um den Leib und wanderte zum Fichtling, um den Schatz zu erneuern. Ein schweres Gewitter war im Anzuge; laut rollte der Donner und Blitz auf Blitz fuhr zur Erde nieder. Ganz durchnäßt langte der Bauer endlich bei den zwei Fichten an. Statt das erhoffte Geld zu finden, vernahm er aus den Bäumen ein höhnisches Gelächter und mußte unverrichteter Dinge abziehen. Der Fichtling, hatte ihm seine Hilfe versagt, da er durch eigenes Verschulden des Reichtums ledig geworden war, und fortan mußte er wieder mit schwerer Arbeit seinen kärglichen Unterhalt verdienen.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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