Die Frau von Leonstein
In geringer Entfernung, auf dem bewaldeten Berge, der sich nordwestlich von Pörtschach hinzieht, stehen die morschen Überreste der Feste Leonstein mit ihrem hohen Wartturme. Auf dieser Burg verlebte Ludmilla von Reifnitz nach ihrer Vermählung glückliche Tage. Plötzlich aber wurde sie von schwerem Unglück heimgesucht. Einst wandelte die Burgherrin, in vertrautem Gespräch mit einem wohlgestalteten Jüngling begriffen, durch die schattigen Gange des Schloßgartens. Der eben heimkehrende Gatte erkannte ihren Begleiter nicht. Von wilder Eifersucht entflammt, stürzte er auf den Jüngling los und stach ihn mit dem Schwerte nieder. Es war der Burgfrau heißgeliebter Bruder, der nach jahrelanger Abwesenheit in die Heimat zurückgekehrt war. Der Schwester Schmerzensrufe verrieten dem voreiligen Mörder, was er verbrochen. Entsetzt starrte er noch den Toten an, entfloh dann eilends aus der Burg und blieb seit jenem Tage verschollen. Ludmilla aber lebte fortan in stiller Zurückgezogenheit. Sie verkehrte nur mit Armen und Hilfsbedürftigen, um an ihnen Werke der Barmherzigkeit zu üben. Als sie starb, versammelte sich die große Schar ihrer Schützlinge unfern der Burg und es erhob sich unter ihnen solch Weheklagen und Weinen, daß ihre Tränen die Wiese befeuchteten. Und mag die Umgebung noch so dürr und vertrocknet sein, immer prangt da eine herzförmige Stelle in frischestem Grün - die Herztratte. Diese hält die Erinnerung wach an das edle Herz der Burgfrau von Leonstein.
Ihr Gatte war nach Rom gepilgert, um dort den Frieden seiner Seele zu finden; dann hatte ihn die Sehnsucht nach der Heimat wieder an den See zurückgeführt. Aber er wagte es nicht mehr, seine Burg zu besuchen und der so schwer gekränkten Gattin vor die Augen zu treten. Auf der nahen Schlangeninsel lebte er, von niemandem erkannt und aufgesucht, in selbstauferlegter Buße jahrelang, bis ihm eines Tages der klagende Ton des Leonsteiner Kapellenglöckleins den Hingang seiner geliebten Frau verkündete. Als am nächsten Morgen das Burggesinde in das Kirchlein trat, um die tote Herrin noch einmal zu schauen, da lehnte der Einsiedler, selbst eine Leiche, kniend vor ihrem Sarge und sein blasser 5Mund war auf die Hände der Verblichenen gepreßt. An seiner Rechten fand man einen Siegelring, welcher erwies, daß der Büßer von der Schlangeninsel der Letzte derer von Leonstein gewesen. Vereint wurden die Gatten bestattet, das Wappen der Leonsteiner wurde gebrochen.
In demselben Augenblicke entlud sich ein heftiges Gewitter, ein Blitz schlug in den Fels der St.-Margareten-Kapelle bei Reifnitz, löste einen mächtigen Steinblock ab und dieser verschüttete die verrufene Schlangenhöhle, deren Bewohnerin seit jener Zeit nicht mehr gesehen ward.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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